Unter dem Rohrstock (2000)
Nachwort von Thomas Kastura / Auszüge:
"Meine
Eltern sind beide angesehene Leute. Heilpraktikerin und Diplomingenieur.
Die können es sich nicht leisten, eine Feier zum qualifizierten
Hauptschulabschluß zu geben. Das muß mehr sein. Nun gut."
(Benjamin Lebert, "Crazy")Die Erwartungshaltung der Eltern ist nur eines der Probleme, mit denen
sich der Internatszögling Benni in dem überaus erfolgreichen
Schülerroman "Crazy" (1999) herumschlägt.
Hinzu kommen Minderwertigkeitsgefühle, die auf eine Behinderung
zurückgehen; Pubertätsnöte, denen sich erste sexuelle
Erfahrungen beigesellen; ein bösartiger Mathematiklehrer, mit dem
Benni einen "Psychokrieg" führt; das Getrenntsein
von den Eltern, die ihrerseits dabei sind sich zu trennen; und ein Freiheitsbedürfnis,
das jeder Jugendliche in gewissem Maß besitzt.
Es hat sich wenig geändert in hundert Jahren: Der Rohrstock hat
als Züchtigungsmittel zwar ausgedient. Dafür gibt es den psychologischen
Druck vieler Lehrer und Eltern nach wie vor, ebenso die Versagensängste
der Schüler und ihre Strategien des Widerstands - Persönlichkeitsbildung
ist ein schwieriger Prozeß. Alle Schülergenerationen verbindet
eine fundamentale Orientierungslosigkeit, besonders am Ende eines Jahrhunderts.
Benni: "Die ganze Jugend ist ein einziges großes Fadensuchen."
Dabei hat er es in der fünften Schule, die er besucht, denkbar
einfach. In dem Internat Neuseelen, so eine Lehrerin, "käme
es auf liebevolle und konsequent verbindliche Werte und soziale Kompetenzen
an". Im Gegensatz zu staatlichen Schulen sitzen hier nicht
"um die fünfunddreißig", sondern nur zwölf
Schüler in einer Klasse. Benni hilft das wenig, seine Probleme
werden dadurch nicht kleiner, er fügt sich nicht ein in das System.
Am Ende bleibt es dabei: "Alles, was wir können, ist zu
schauen. Zu warten und zu schauen. Was auf uns zukommt."
Die Erzählungen dieses Bandes zeigen, daß sowohl die Figur
Benni als auch der Autor Benjamin Lebert in den Jahren um 1900 bemerkenswert
viele Vorgänger hat. Darüber hinaus läßt sich der
Roman "Crazy" als Zeichen einer Bildungskrise interpretieren,
die Teil eines weitreichenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen
Umbruchs ist. Wie noch zu sehen sein wird, hat es das in ähnlicher
Form schon vor hundert Jahren gegeben.
"Die
Ferien gehen zur Neige, das Thema Schule wird wieder aktuell. Ein Dauerthema,
hat doch jeder seine Erfahrungen damit gemacht. Nicht selten leidvolle,
wie die Anthologie "Unter dem Rohrstock. Schülerleben um 1900"
dokumentiert. [...] Das meiste ist überwunden, stellt der Leser
erleichtert fest, anderes beklemmend aktuell, denkt man an den 1999
erschienenen Internatsroman "Crazy" von dem jungen Benjamin
Lebert. "Schulgeschichten wollen den Blick für einen Abschnitt
des Lebens schärfen, wo sich zwar nicht alles, aber vieles entscheidet",
schreibt Kastura im Nachwort." (Fränkischer Tag)
Texte:
· Max Kretzer: "Onkel Fifi" (1883)
· Conrad Ferdinand Meyer: "Das Leiden eines Knaben"
(1883)
· Arno Holz: "Der erste Schultag" (1889)
· Arthur Schnitzler: "Der Sohn" (1892)
· Otto Ernst: "Der süße Willy" (1896)
· Marie von Ebner-Eschenbach: "Der Vorzugsschüler"
(1901)
· Rainer Maria Rilke: "Die Turnstunde" (1902)
· Thomas Mann: "Das Wunderkind" (1903)
· Hermann Hesse: "Karl Eugen Eiselein" (1903)
· Heinrich Mann: "Abdankung" (1905)
· Ludwig Thoma: "Der Kindlein" (1905)
· Georg Heym: "An das Provinzialschulkollegium in Berlin"
(1906)
· Peter Altenberg: "Maske der Vierzehnjährigen"
(1908)
· Robert Walser: "Tagebuch eines Schülers (1908)"
· Robert Walser: "Brief eines Vaters an seinen Sohn"
(1914)
· Arnold Zweig: "Benarône" (1909)
· Friedrich Huch: "Aus einer Kindheit" (1911)
· Friedrich Heinle: "Meine Klasse" (1913)
· Klabund: "Professor Runkel" (1913)
Nachwort
Zu den Autoren
Bibliographie
©
Thomas Kastura
Thomas
Kastura (Hg.):
Unter dem Rohrstock.
Schülerleben um 1900.
München: Goldmann Verlag 2000. 414 Seiten. 8,90 €
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