Vielleicht fällt die grande passion aber dieses Jahr ins Wasser. Die Toskana wird von unerwartet heftigen Regengüssen heimgesucht und weit und breit findet sich keine duftende Wiese, wo man versonnen den Blick aufeinander ruhen lassen kann. Dann ist es ratsam, die passenden Bücher dabei zu haben. Was hätte Lucy am Anfang des 20. Jahrhunderts wohl gelesen, wenn ihr nicht der junge Mister Emerson über den Weg gelaufen wäre?
Für Reiselektüre gelten meist literaturferne Kriterien. Vieles spricht im Urlaub für ein dickes Buch. Einen richtigen Wälzer zum Schmökern, ein Kilo "Großes Drama", eine Familiensaga wie Thomas Mann s "Buddenbrooks" , von epischem Atem, aber auch mit amüsanten Elementen, denn Trübsal sollen lieber die Daheimgebliebenen blasen. Auf so ein Buch kann sich Lucy betten wie auf ein Feld voller Erdbeerklee, sie kann sich regelrecht verlieren in all den Unter- und Rahmenhandlungen, in Rand- und Nebenfiguren, in ganzen Weltentwürfen und historischen Breitwandpanoramen. Bald schon wird das dicke Buch zu einer treuen Gesellschafterin, die Lucy nie im Stich lässt.
In der Theorie hört sich das einleuchtend an. Aber wenn sich Miss Honeychurch die schwere Schwarte im Lehnstuhl vornimmt, fallen ihr nach dem ersten Kapitel schon die Arme ab. Überall hin mitnehmen kann sie den Ziegelstein auch nicht. Knallt sie ihn auf einen kleinen Cafétisch, hat dort nicht einmal mehr ein Mokkatässchen Platz. Und die Strandtasche lässt sich damit auch nicht besonders lässig schlenkern. Außerdem ist Lucy eine sprunghafte Natur. Mit nur einem einzigen Buch im Gepäck würde sie sich schrecklich festgelegt fühlen. Am Ende liest es sich so zäh wie das florentinische Gebäck, das sie im Advent an ihre Tanten verschenkt. Die "Buddenbrooks" sind für die Reise also ungeeignet.
Besser als die Ein-Buch-Lösung ist eine Auswahl mehrerer Bücher. Daran kann sich Lucy je nach Stimmung, Tageszeit und Wetterlage delektieren. Drei Titel genügen, sonst ist die Qual der Wahl stärker als die Lust am Lesen. Buch Eins könnte eine Anthologie mit Erzählungen sein: eines jener Urlaubslesebücher, mit denen die Verlage gern Werbung für ihre Hausautoren machen. "Hausautoren" klingt zwar wie "Hauswein", und Lucy muss unwillkürlich an Chianti aus der Zwei-Liter-Bastflasche denken. Aber vielleicht stammt die Anthologie aus dem Hause Fisher Unwin, und die Autoren heißen John Galsworthy oder Joseph Conrad . Außerdem sind Erzählungen in der Regel schön kurz. Davon hat Lucy schnell ein paar weggelesen, während sie in der Schlange vor den Uffizien steht.
Bei Buch Zwei greift sie zu etwas Gehaltvollem. Nicht zu umfangreich, aber dennoch ein Band, von dem sie länger etwas hat, ein komprimiertes Schichtwerk, gleichsam die Lasagne unter den Büchern. Vielleicht gießt es ja zwei Wochen am Stück. Dann wird sich Lucy den "Ecce Homo" von Nietzsche immer wieder aufs Neue vorknöpfen. Es muss ja nicht gleich der "Antichrist" sein. So ein Titel verschreckt viele Leute und kann zu Missverständnissen führen. Wenn Lucy damit in Rom durch die Via della Conciliazione schlendert und über den Petersplatz spaziert, bliebe sie nicht ungestört bei der Lektüre. Dagegen ist der "Ecce Homo" vergnüglich geschrieben und durchaus kompatibel mit der Stimmung auf einer vatikannahen Piazza. Der Untertitel "Wie man wird, was man ist" erinnert an eine spirituelle Erbauungsschrift. Mit positivem Denken hat der Inhalt freilich wenig zu tun; eher schon mit einem freiwilligen Leben in Eis und Hochgebirge, wie Nietzsche seine Philosophie bezeichnete – was den "Ecce Homo" zum idealen Begleiter für einen Ausflug in die Abbruzzen macht.
Apropos Ratgeber: Das dritte Buch in Lucys City-Bag könnte ein Sachbuch sein. Nicht unbedingt die Neuübersetzung des "Peloponnesischen Krieges" von Thukydides, die nimmt sich all zu sperrig aus. Wenn Lucy schon einmal Zeit und Muße hat, ihren Horizont zu erweitern, dann führt sie sich Wissen in kleinen Portionen zu, etwa "The Science Schools Journal", eine Aufsatzsammlung von Herbert George Wells . Darin breitet er Gedanken über eine Zeitmaschine aus, die Lucy völlig abgedreht vorkommen. Interessanter – und gruseliger – erscheinen Überlegungen zu den "Grenzen menschlicher Formbarkeit". Es geht um die Transplantation von Gewebeteilen mit dem Ziel einer genetischen Veränderung, um das "Modellieren des gemeinen Individuums zu einer grotesken und schönen Kreatur". Den Roman dazu, "Die Insel des Dr. Moreau" , will sich Lucy nach der Rückkehr nach England sofort besorgen. Vom Fluch der modernen Schönheitschirurgie schwant ihr freilich noch nichts.
Jetzt hat Lucy drei Bücher eingepackt, mit denen sie den größten Gefahren einer verregneten Reise getrost ins Auge blicken kann: Langeweile, Humorlosigkeit und geistige Degradation. Um aber auch für Notfälle gewappnet zu sein, braucht sie noch ein vielseitig verwendbares Vademecum, ein Mittel gegen die am weitesten verbreitete Touristenkrankheit. Es gibt ja immer einen Urlaubsort, der einem perfekter erscheint als der, für den wir uns leichtfertig entschieden haben. Deswegen liegt es nahe, sich in den Ferien an alternative Reiseziele entführen zu lassen. Um 1900 bieten sich da Robert Louis Stevensons Berichte "In der Südsee" an, oder W. H. Hudson s Beschreibung "Müßiger Tage in Patagonien" . Doch Lucy denkt gern ihre eigenen Gedanken, selbst dann, wenn ein Mann sie in den Armen hält. Deshalb sagen ihr Isabella Birds Bücher zu, die den Wilden Westen und Tibet unsicher machte, oder Mary Kingsleys "Reisen in Westafrika" . Ein Mann, das wusste Mary Wollstonecraft schon 1792, hat auf einer Reise immer das Ziel im Blick. Eine Frau denkt mehr an die unvorhergesehenen Zwischenfälle.
Zu diesen Zwischenfällen gehört auf Lucys Reise in die Toskana der Auftritt des ungehobelten, aber umso liebenswerteren George Emerson. Wenn so einer daherkommt und ihr mit einem Kuss die Augen dafür öffnet, dass die Welt ein Ganzes ist, lässt sie die Reisebibliothek gern auf dem Nachttisch liegen. Jemand wie Lucy hat in Florenz Wichtigeres zu tun als zu lesen – sie wird selbst zu Literatur. Zuhause in Surrey erfährt sie nämlich, dass Miss Lavish, ein weiterer Pensionsgast, den leidenschaftlichen Kuss beobachtet und in einem Trivialroman verbraten hat. Unter einer Loggia heißt das Rührstück. Zuerst versetzt es die Figuren in E. M. Forsters Roman in helle Aufregung, aber am Ende finden die Liebenden doch zueinander. – Für eine gelingende Reise ist die Wahl der Lektüre also zweitrangig. Auf die Wahl des Zimmers kommt es an.
Die Glosse wurde am 23.7.2005 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.
© Thomas Kastura