Sommerfestspiele
in der deutschen Provinz. Wallenstein
,
dritter Teil, es wird doch noch spannend. Gerade hat sich der Feldherr
beklagt: "Ich bin es nicht gewohnt, dass mich der Zufall / Blind
waltend, finster herrschend mit sich führe." Man nickt: Recht
so, alter Böhme, nur nicht unterkriegen lassen! Terzky und Illo
gehen ab, Wallenstein hebt zum Monolog an. Nach sieben Zeilen kommt
die Stelle "Beim großen Gott des Himmels!" – und
justament öffnet selbiger seine Pforten. Sturzregen, Wolkenbruch,
Sintflut, nach einer Viertelstunde in rheumatisches Nieseln übergehend,
will heißen: Abbruch des Spektakels ohne Rückerstattung des
Eintrittsgelds. Nass, kalt und aus.
Da hat man stundenlang den Dreißigjährigen
Krieg en gros und en detail an sich vorüberdefilieren lassen, ab
und zu einen bangen Blick auf den Flug der Schwalben geworfen, und dann
das! Aber was hilft es, sich zu ärgern? Je länger man unter
dem Regenschirm steht und mit dem Wetterbericht hadert, desto geringer
werden die Chancen, in dem einzigen Gasthaus in Laufnähe noch einen
Platz zu finden. Gerade sperrt die Souffleuse das Kartenhäuschen
zu. Begossen schlurfen Schauspieler vorbei, die ein strafender Theatergott
in die Freiluft-Diaspora verbannt hat. Auf der Bühne bilden sich
Pfützen.
"Wieder eine vermieste Premiere!" denkt man
sich da und überlegt, wann man zum letzten Mal einem ungetrübten
Kulturgenuss beiwohnen durfte. Vielleicht neulich im Musikverein bei
Gustav Mahlers Fünfter
?
Das Scherzo des dritten Satzes, bunt, süß und manchmal etwas
dämlich, ist mit westernartigem Getöse zu Ende gegangen. Es
naht das berühmte Adagietto, diese Schluchznummer der symphonischen
Klangkunst, dieses Zartbitter in cis-moll, dieser moschusschwere, heiligste
Schauer vor der Erfindung des Blues. Kurzes Räuspern im Publikum
– macht nichts, das gehört zur inneren Sammlung.
Sanft geht es los: Die zweiten Streicher legen eine
Art Gebetsteppich aus. Die Harfen versprengen darauf ein paar melancholische
Weihwassertropfen. Dann, als Geigen und Bratschen anheben, in die Seele
wie in ein weites Rad hineinzugreifen, kommt der Huster. Kein flüchtiges
Ausstoßen der Luft. Kein verschämtes Hüsteln aus dem
Hintergrund, das kurz mal herausmuss, sondern eine Furcht erregende
Salve aus den Tiefen des Kehlkopfs, ein Krachen, Rumpeln und Dröhnen,
das sogar den gezupften Bass übertönt, eine Bakterien-Eruption,
die alle Reizstoffe herausschleudert, die je von der Zivilisation ausgebrütet
wurden.
Das Orchester spielt weiter, aber alle leiden. Der Maestro
führt den Taktstock wie eine sehr lange, sehr scharfe Klinge –
beneidenswert, denn der kann sich wenigstens abreagieren. Einige Mahler-Märtyrer
richten sich im Sitz auf und versuchen den Schuldigen, der besser auf
seiner Intensivstation geblieben wäre, irgendwo auszumachen. Lynchjustiz
wirkt manchmal befreiend. Aber natürlich will es wieder keiner
gewesen sein. Stumm sinkt man zurück und bleibt ein weiteres Mal
ungestreift vom großen Gefühl, vom einzigartigen Augenblick,
den die Griechen "Kairos" nennen.
Dabei standen die Zeichen so günstig! Kein Betonpfeiler,
wie er in Konzertsälen der 60er-Jahre mitunter unmotiviert herumzustehen
pflegt, ruinierte die Akustik. Kein knurrender Magen, der dem ergreifenden
Ereignis schon seit Wochen entgegenfastete, machte sich bemerkbar. Keine
Hörgeräte summten, keine Gedärme rumorten, keine künstlichen
Herzklappen tickten einem so stetig und unbeeindruckt wie eine Zeitbombe
in die Gedanken hinein. Musikverein! Normalerweise kommt man da ohne
ein amtsärztliches Attest gar nicht rein. Das ist keimfreie Zone,
so steril wie ein Kreissaal und so still wie eine Gruft. Im Gegensatz
dazu herrscht in der Oper geradezu Jahrmarktstimmung.
Die Oper – auch so ein Golgatha für Puristen,
Trappisten und sonstige Liebhaber des absoluten Silenciums. Wahrscheinlich
denken die Leute kurz vor Salomé
s
Schlussarie, als die Musik nur verhalten wabert: "Wenn die auf
der Bühne so schreien, dann können wir uns im Parkett genauso
gut über Börsenkurse unterhalten." Anders in Italien:
Da singen die Zuschauer je nach Lust und Laune laut mit – nicht
immer tonal, aber mit Begeisterung. Ein Opernhaus ist eben auch gesellschaftlicher
Treffpunkt. Dort werden luftraumbeherrschende Frisuren ausgeführt,
an denen Joe, Chester oder wie die Szene-Coiffeure eben so heißen
in tagelangen "Sessions" herumgemeißelt haben. Dort
werden Parfums zu Geruch gebracht, die jeden Fliegentod wie Patschuliblüten
aus den Gärten der Glückseligen wirken lassen. Dort klickern,
klimpern und klirren Schmuckstücke, die sich selbst der schrillste
Azteke nicht an die Nüstern geklemmt hätte. Selbst auf der
Love Parade geht es ruhiger zu als in mancher Oper.
Da möchte man in eines jener schuhschachtelgroßen
Programmkinos fliehen, wo man in der Nachmittagsvorstellung noch ganz
für sich bleiben kann. Den Himmel
über Berlin
kennt man zwar auswendig, aber Bruno Ganz ist immer
ein Genuss. Dafür nimmt man auch eine Bestuhlung in Kauf, die an
den Notsitz in einer alten Isetta erinnert. Und man überhört
gerne die S-Bahn, die in zehnminütigen Abständen das Bild
zum Wackeln bringt. Das ist irgendwie expressionistisch und wie der
Kratzer auf einem frühen
Miles Davis-Album
– Nostalgie gibt’s eben nur mit kleinen
Macken.
Nach der erfreulich kurzen Werbung kommt der Vorspann.
"Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war",
brummelt Bruno gerade in seinen Bart, als eine Horde Kinder in den Zuschauerraum
strömt. Dem Geplapper der hellen Stimmchen ist zu entnehmen, dass
sie ursprünglich in Das
Große Krabbeln
wollten. Aber das ist schnell vergessen, denn
sie krabbeln schon kreuz und quer durch das Lichtspielgehege, eine abenteuerlustige
Schar, die den griesgrämigen Onkel an den Haaren zupft, gegen das
Schienbein tritt und auch sonst ganz kindergerecht piesackt. Als dieser
erste Reiz verflogen ist, starten die erziehungsberechtigten Wärter
die nächste Animationsoffensive. Sie schleppen zuberweise Futter
herbei: Popcorn, Brezeln, Chips und, warum eigentlich nicht, eine Familienpizza,
denn es ist ja Familientag. In erbitterten Verteilungskämpfen erproben
die kleinen Bestien ihre Stimmbänder und kommen bis in die höchsten
Tonlagen: Es ist ein besonderer, geradezu exotischer Schmerz, der sich
da in den Schläfenlappen bohrt und stecken bleibt wie eine Voodoonadel.
Man wird ihn sich merken müssen und zu gegebener Zeit abrufen,
etwa in Form eines spontanen Stupors, wenn die Gespielin mit Nachwuchsplänen
droht. Einstweilen zieht man unter dem fröhlichen Knuspern des
Gezüchts von dannen – gerade noch rechtzeitig, denn schon
fliegt die erste Schrotladung Nüsschen durch die Luft.
Kultur in aller Öffentlichkeit: Das ist nichts
für pingelige Perfektionisten, sondern bittere Realität. Allerorten
lärmt die Show, der Slam, das Event – nicht auf, sondern
in erster Linie vor der Bühne und um sie herum. Unsere Musentempel
werden entweiht von gemeinen Hustern und Hosenmätzen, von menschlichen
Christbäumen und unsensiblen Gewittern. Den Ungläubigen und
Abgefallenen wird die reine Lehre ein ewiges Arkanum bleiben. Ade, du
schöne Kunst, vollkommenste Erhebung, Tiefe des Lebens! In freier
Wildbahn wird deines Bleibens nicht länger sein. "Ach!"
ruft Elsa, als Lohengrin
im Nachen entschwindet. "Weh!" antwortet der Rest des Ensembles,
worauf der übereifrige Theaterarzt den Saal räumen lässt
und über Funk die Küstenwache verständigt.