"Es
war, als sei ein Schleier zerrissen. Ich sah düstern Stolz, erbarmungslose
Gewalt, feigen Schrecken auf diesem Gesicht aus Elfenbein, tiefe und
hoffnungslose Verzweiflung. Lebte er sein Leben nochmals, jeden einzelnen
Wunsch, jede Versuchung und alle Hingabe, während jenes höchsten
Augenblicks vollkommenen Wissens? Flüsternd schrie er etwas irgendeinem
Bild entgegen, einer Vision - er schrie zweimal, nicht lauter als sein
Atmen: Das Grauen! Das Grauen!"
Das Herz
der Finsternis
, aus dem diese Ausschnitte stammen, ist die bei weitem
düsterste Erzählung von Joseph Conrad. Das liegt nicht nur
an dem pessimistischen Tonfall von Kapitän Marlow, in den sich
Resignation und Sarkasmus mischen, oder an den Gewaltphantasien des
sterbenden Elfenbeinhändlers Kurtz. Mit den verschiedenen Formen
der Melancholie ist man schnell vertraut, wenn man sich in das Werk
dieses Autors hineinwagt. Nein, die Erzählung ist deshalb so düster,
weil sie so viel Wahrheit enthält. 1897, zwei Jahre bevor das "Herz
der Finsternis" erscheint, formuliert Conrad seinen Kunstanspruch:
"Die Kunst selbst kann man definieren als ein
aufrichtiges Bestreben, der sichtbaren Welt jene höchste Gerechtigkeit
zu erweisen, die darin besteht, die vielfältige und einheitliche
Wahrheit ans Licht zu bringen, die allen Erscheinungen der Welt zugrunde
liegt. Sie ist ein Bestreben, in ihren Formen und Farben, ihren Licht-
und Schattenseiten, in den Eigenschaften der Dinge und den Tatsachen
des Lebens den innersten Grund zu finden, dasjenige, was an ihnen beständig
und wesentlich ist - was die Wahrheit ihres Daseins aufleuchten lässt
und uns von ihr überzeugt."
Das "Herz der Finsternis" liegt im Belgisch-Kongo,
jener Kolonie in Zentralafrika, die der belgische König Leopold
II. zu seinem Privatbesitz erklärte und wo er seine Erfüllungsgehilfen
aus aller Welt besonders schlimm wüten ließ. Conrad erlebt
dieses Kapitel der europäischen Expansion vor Ort. In seinem ersten
Leben als Seemann und Schiffsoffizier, das ihn zwanzig Jahre lang quer
über den Erdball führt, nimmt er 1890 ein Kommando im Kongo
an. Zu diesem Zeitpunkt hat er schon viel gesehen: Bombay, Singapur,
Borneo, Java, Australien, die Karibik, das Mittelmeer. Doch nach den
acht Monaten, die er in Afrika als Angestellter einer belgischen Handelskompanie
verbringt, kommt es ihm vor, als habe er zuvor "keinen Gedanken
im Kopf gehabt", als sei er eine "reine Bestie" gewesen.
"Ein leises Klirren hinter mir ließ mich
den Kopf wenden. Sechs Schwarze mühten sich in einer Reihe den
Pfad herauf. Sie schritten aufrecht und langsam einher, balancierten
kleine Körbe voll Erde auf den Köpfen, und das Klirren hielt
Takt mit ihrem Schritt. (...) Ich konnte all ihre Rippen zählen;
die Gelenke ihrer Gliedmaßen waren wie Knoten in einem Seil; jeder
hatte einen eisernen Ring um den Hals, und sie waren alle durch eine
Kette miteinander verbunden, die zwischen ihnen, rhythmisch klirrend,
hin und her schwang."
Auf Schritt und Tritt begegnet Conrad den Spuren des
Regimes, das auf Zwangsarbeit und Sklaverei beruht und nur auf wirtschaftliche
Ausbeutung abzielt. Dieses einschneidende Erlebnis rüttelt den
Mittdreißiger auf. Er schließt Freundschaft mit dem schottischen
Sozialisten Cunninghame Graham, den er für einen "homme de
foi", einen gutgläubigen Menschen hält. Mit politischen
Utopien kann der konservative Conrad zwar wenig anfangen, aber der Aufsatz
"Bloody Niggers" spricht ihm aus der Seele. Mit bitterer Ironie
schreibt Graham:
"Oh, Afrika! Der Herrgott muss in wirklich miserabler
Verfassung gewesen sein, als Er diesen Kontinent schuf. Warum sonst
hätte Er ihn mit Menschen bevölkern sollen, die vom ersten
Tag an dazu verdammt waren, durch Völker eines anderen Kontinents
verdrängt zu werden? Wäre es da nicht besser gewesen, die
Nigger gleich weiß zu machen, so dass daraus mit etwas Glück
ordentliche Engländer hätten werden können, anstatt diesen
das Problem ihrer Ausrottung aufzuhalsen?"
Der Aufsatz spielt auf die trüben Rassentheorien
an, die im Gefolge Darwins aufkamen und die europäische Kolonialpolitik
legitimieren sollten. Als er 1897 erscheint, schaut die westliche Welt
noch weg. Großbritannien bereitet sich gerade auf das Thronjubiläum
der Queen vor. Das Empire ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. "Nie
waren wir so stark", jubelt die Zeitschrift "Cosmopolis".
"Die Welt soll begreifen, dass wir kein Quäntchen davon abzugeben
gedenken." Deutsche und französische Mitarbeiter des Magazins
fallen in den nationalistischen Taumel ein. Erst in der Kongo-Debatte
von 1903 wird das unbequeme Thema öffentlich diskutiert.
Conrad erlebt das alles hautnah mit. Nach seiner Fahrenszeit
hat er sich in Essex niedergelassen und seine ersten Romane veröffentlicht.
Almayers
Luftschloss
erhält gute Kritiken und wird mit Kiplings Geschichten
verglichen. Der
Verdammte der Inseln
schließt sich 1896 unmittelbar an. Beide
Bücher spielen im malaiischen Archipel, wo die Europäer dem
Traum vom schnellen Reichtum hinterherjagen. Sie suchen nach dem gelobten
Land, in dem es Kautschuk und Rohr, Perlmuscheln und Vogelnester, Pech
und Damaragummi im Überfluss gibt. "Ausquetschen Dorf Soundso,
bei erstbester Gelegenheit", hält einer der Glücksritter
in seinem Notizbuch fest. In diesem rechtsfreien Raum ist so gut wie
alles erlaubt.
(...)
Joseph Conrad stammt ursprünglich aus dem polnischen
Ort Berditschew, der in der heutigen Ukraine liegt. Er heißt mit
richtigem Namen Józef Teodor Konrad Korzeniowski und spricht
neben der Muttersprache Polnisch fließend Französisch. Das
Englische, das er sich erst auf See aneignet, ist die Sprache seiner
geistigen Heimat. Deshalb verfasst all seine Bücher von Anfang
an auf Englisch. Er beherrscht das fremde Idiom mit bewundernswerter
Sicherheit und schreibt einen ausgefeilten, ungemein bilderreichen Stil.
Doch der große Erfolg stellt sich erst relativ spät ein.
Das mag daran liegen, dass vor allem die Romane langsam in Gang kommen.
Ein Rahmenerzähler wie Kapitän Marlow, der auch in den Romanen
Lord
Jim
und Spiel
des Zufalls
sowie in der Erzählung Jugend
vorkommt, macht es sich erst einmal auf der Terrasse gemütlich.
Im Plauderton geht es los:
"Erzählen! Bitteschön! Nichts leichter,
als zweihundert Fuß überm Meer von Master Jim zu erzählen
- nach einer guten, ausgiebigen Mahlzeit und mit einer Kiste köstlicher
Zigarren zur gefälligen Entnahme, und das obendrein an einem so
gesegneten Abend wie heute, dessen Frische und Sternenlicht die Besten
unter uns vergessen lassen, dass wir auf Erden nur stillschweigend geduldet
sind und dass wir unseren Weg im Dämmerlicht suchen und dass wir
jede einzelne, kostbare Minute und jeden unwiderruflichen Schritt genau
zu bedenken haben: im Vertrauen darauf, dass wir es irgendwie schaffen
werden, mit Anstand abzutreten - auch wenn wir letztlich doch nicht
so sicher sind, dass es uns gelingen wird - , und mit verdammt wenig
Hoffnung auf Hilfe von denen, die wir links und rechts mit unseren Ellenbogen
streifen."
Conrads Erzählerfiguren mutmaßen, kommentieren,
interpretieren, lassen wechselnde Perspektiven einfließen, geben
Vorausdeutungen und sind selber in ein Geschehen verstrickt, das selten
einem geordneten zeitlichen Hergang folgt. Diese eigenwillige Erzählweise
ist am literarischen Impressionismus geschult. Sie ermöglicht es
Conrad, seine eigenen Ansichten einfließen zu lassen und zugleich
auf Distanz zu gehen zu seinen Figuren. Keiner von ihnen hat die Wahrheit
gepachtet, keiner ist frei von Schuld. Selbst Marlow gerät in den
Bann von Kurtz, der ein "großartiger Führer einer extremistischen
Partei" geworden wäre, wie es einmal heißt.
Es ist, als ob Conrad in seinen Büchern immer
ein Stück weit beiseitesteht. Ab und zu gibt er ein Stichwort,
aber es bleibt letztlich unklar, in welchem Umfang er sich mit Marlow
oder Lord Jim oder den anderen identifiziert. Der Grund für diese
Verschlossenheit mag in seiner Herkunft liegen. Seine Eltern waren polnische
Revolutionäre, deren Leben davon abhing, sich nicht zu offenbaren
und dadurch selbst zu verraten.
(...)
1918 ergreift er in dem Essay "Das Verbrechen
der Teilung" Partei für Polen, das noch immer unter Fremdherrschaft
steht und das er als "Bollwerk zwischen der großen Macht
des Slawentums (...) und dem organisierten Germanismus" bezeichnet.
Conrad ist zwar kein radikaler Demokrat wie seine Eltern, aber der Zarismus
ist ihm schon lange ein Dorn im Auge. Die russische Autokratie sei ein
Fluch, heißt es in einem Aufsatz von 1905.
"Russland (...) ist die Verneinung all dessen,
wofür zu leben sich lohnt. Es ist ein (...) ein endloser Abgrund,
der jede Hoffnung auf Barmherzigkeit, jedes Streben nach persönlicher
Würde, nach Freiheit, nach Wissen, jede edle Sehnsucht des Herzens,
jedes erlösende Flüstern des Gewissens verschlungen hat."
Dagegen zollt er der politischen Ordnung Englands,
seiner zweiten Heimat, öffentliches Lob. Nur in dem Roman Der
Geheimagent
stellt er auch diese Ordnung in Frage. Damit setzt er
die imaginäre Welt von Nostromo
in die reale Gegenwart fort - mit einem Makel: "Der Geheimagent"
wird bis heute eher als Kriminalroman gelesen, psychologisch gut ausgearbeitet,
aber eben als Kriminalroman. Das ist auch richtig: Conrad ordnet seine
Gesellschaftskritik zu sehr der Handlung unter. Vielleicht, so könnte
man mutmaßen, gibt er sich damit auch zufrieden. Aus seiner Sicht
ist mit "Nostromo" ja alles gesagt.
Mit wenigen Ausnahmen bleibt das auch in den späten
Romanen so. Conrad hat den Zenit seines Schaffens überschritten.
Er hält oft Rückschau, produziert zunehmend Routinearbeiten
und erobert inzwischen auch ein breiteres Publikum. Endlich stellt sich
Ruhm ein. Auf einer Lesereise durch die USA, die auf großen Zuspruch
stößt, fühlt er sich "wie im Traum". Fotos
aus seinen letzten Lebensjahren zeigen ihn als distinguierten, aristokratisch
wirkenden Kauz, der seine Auftritte sichtlich genießt.
Altmodisch wirkt auch Conrads unbeirrter Glaube an
die Solidargemeinschaft aller Menschen. Doch dieser Glaube, der ihn
immer wieder zur Feder greifen lässt, macht sein Werk nicht unmodern.
Er pflegt nicht die Attitüde des Ewiggestrigen, der die sittlichen
Werte der Vergangenheit überhöht und sich selber für
unfehlbar hält. Er flüchtet sich auch nicht in einen Ästhetizismus,
den Zeitgenossen wie Oscar Wilde pflegen. In den Gesprächen, die
er seine Figuren in der pechschwarzen Nacht führen lässt,
wirft er Fragen auf, die uns auch hundert Jahre später nicht schlafen
lassen: Wie dünn ist der Firnis der Zivilisation? Was bleibt zu
tun, wenn man sich auf der sicheren Seite von Freiheit, Gleichheit und
Humanität wähnt? "Nur zusehen - ohne einen Laut",
wie es in dem Roman "Sieg" heißt, ruft unweigerlich
jemanden auf den Plan, der einen Revolver und kein Gewissen besitzt.
Antworten
hat Conrad nicht zu bieten. Denn Aufklärung, dieses aufreibende,
undankbare, unvollendete Projekt, kann nur von dem erzählen, was
schief geht - in Ausschnitten, wieder und wieder, vielleicht mit einem
Fünkchen Hoffnung. Conrad lässt seine Zuhörer an diesem
unentwegten Abwägen und Urteilen teilhaben. "Meine Aufgabe,
die ich zu erfüllen versuche, besteht darin, euch kraft des geschriebenen
Wortes hören, fühlen - und vor allem sehen zu machen."
Vom Leben auf Segelschiffen zu erzählen, wirkt
da ein bisschen nostalgisch - und war es schon um 1900, als die Dampfschifffahrt
immer sicherer wurde und man sich den Windjammer in Öl über
den Kamin hängte. Auf See, so scheint es, sind die alten Ordnungen
und Hierarchien noch intakt, ebenso im Seeroman, wo die aristotelischen
Einheiten von Ort, Zeit und Handlung oft noch Bestand haben. Conrad
trauert dieser Welt im Kleinen nach. Nicht, weil er die Sicherheit dieser
Männerdomäne vermisst, sondern weil sie für ihn ein Experimentierraum
aus eigener Erfahrung ist, ein zeitenthobener Ort für Spekulationen
über das Wesentliche. Auf See hat er sein Dasein vor sich selbst
gerechtfertigt, wie er 1919 in der Aufsatzsammlung "Notes on Life
and Letters" resümiert. Hier hat er sich auseinander gesetzt
mit der Unsicherheit des Lebens und der Unzulänglichkeit der Menschen.
Hier hat er einen Sinn entwickelt für die condition humaine, die
er in seinen Romanen dann auf den Prüfstand stellt. Dabei verfolgt
er das Ziel, les valeurs idéales - die ideellen Werte - aufzuspüren
und sichtbar zu machen.
Instinktiv, "ohne viel Nachdenken", geht
Conrad diesem Ziel nach. Er ist kein Bastler, der eine Geschichte so
lange zurechtfeilt, bis sie auf Punkt und Komma mit seinen Thesen übereinstimmt.
Die humorvollen, traurigen, leidenschaftlichen Seiten seien zu den ideellen
Werten von allein dazugekommen, schreibt er. Doch nur so, könnte
man ergänzen, wird aus einer Idee ein Roman. Wenn Conrad erzählt,
ist es stets ein Wagnis, ein Gang ins Ungewisse.
"Eine Küste zu betrachten, wie sie am Schiff
vorbeigleitet, das ist, als ob man über ein Rätsel nachdächte.
Da ist sie vor dir - lächelnd, abweisend, einladend, großartig,
trostlos, unscheinbar oder wild, und immer stumm, obwohl sie stets zu
flüstern scheint. Komm her und find es heraus."
Der vollständige
Essay wurde am 23.9.1999 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.
© Thomas Kastura
Literatur:
Joseph Conrad: Almayers Luftschloss . 9,90 €