"Nie
wieder werden uns Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen,
ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte
Zivilisation stört für immer die Stille der Meere. Eine Gärung
von zweifelhaftem Geruch verdirbt die Düfte der Tropen und die
Frische der Lebewesen, tötet unsere Wünsche und verurteilt
uns dazu, halb verfaulte Erinnerungen zu sammeln. [...] Und so verstehe
ich die Leidenschaft der Reiseberichte, ihre Verrücktheit und ihren
Betrug. Sie geben uns die Illusion von etwas, das nicht mehr existiert
und doch existieren müsste, damit wir der erdrückenden Gewissheit
entrinnen, dass zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind."
Claude
Lévi-Strauss
hat nicht nur das Genre des Reiseberichts, sondern
auch die Reise an und für sich totgesagt. 1955 erschien sein Buch
Traurige
Tropen
, in dem er einem Verlustgefühl Ausdruck gab: "Richtiges"
Reisen, das heißt eine entbehrungsreiche, gefährliche Fahrt
in die Ferne, auf der man seine Persönlichkeit bilden kann, sei
nicht mehr möglich. Geht man noch einen Schritt weiter, gelangt
man zu der Erkenntnis, dass ein fundamentales Bedürfnis des Menschen
nicht mehr einlösbar sei: der Versuch, die eigene Person in Zeit
und Raum auszudehnen, sei es als Eroberer, Kreuzfahrer, Entdecker, Kaufmann,
Forscher, Abenteurer - oder Tourist.
Wer jetzt gerade den Bahnsteig betritt oder vor dem
Abflug-Terminal steht, braucht nicht gleich auf dem Absatz umkehren
und bedröppelt nach Hause gehen. Die Moderne hat schon so Einiges
zu Grabe getragen und mal den Tod der Literatur, mal den Tod des Subjekts
verkündet. Da lohnt es sich, einmal genauer nachzuprüfen,
ob die Tropen wirklich so traurig sind. Entbehrungsreich und gefährlich
kann eine Reise dorthin jedenfalls nach wie vor sein, auch wenn die
weißen Flecken von den Karten verschwunden sind.
Denn eine terra incognita gibt es nicht mehr. Alles
ist gänzlich wegentdeckt, ausgeforscht und bis auf den letzten
Quadratzentimeter vermessen. Vermutlich hat der Historiker Eric Leed
Recht. Er behauptet, dass die Reise in Gestalt des Tourismus immer mehr
der Beschäftigung eines Häftlings gleiche, der in seiner Zelle
hin und her läuft und den Spuren zahlloser anderer genauso "freier"
Gefangener folgt. Was früher einmal Ausdruck von Freiheit war,
so schreibt er in seinem Buch Die
Erfahrung der Ferne
, mache uns heute immer mehr unser Gefangensein
bewusst. Auf unserem nächsten Trip nach China, Siena oder Berchtesgaden
sollten wir uns also schon mal vergegenwärtigen, dass wir uns nur
noch der Illusion von Freiheit hingeben. Wir sind Gefangene.
Kommt drauf an. Einer, den es immer wieder in die
Ferne drängt und der nach wie vor an seinen Illusionen festhält,
ist der Bergsteiger Reinhold Messner. Auf die Frage, wo sich zukünftige
Abenteuer abspielen werden, antwortet er: in Welten, in denen die Zivilisation
zusammenbricht und die Wildnis zurückkehrt - zum Beispiel östlich
des Ural. Er möchte dorthin gehen, wo es keine Infrastrukturen
mehr gibt, wo alles einstürzt und zerfällt, vor allem aber:
wo alle anderen Reisenden nicht hingehen.
An dieser Haltung lässt sich vielerlei ablesen.
Messner hat zunächst einmal einen unerfüllbaren Wunsch, den
er mit vielen Menschen teilt. Er versucht, sich als Reisender von allen
anderen zu unterscheiden, sich abzuheben von reisenden Touristenmassen
und Allerweltsabenteurern. Das ist natürlich nur ein frommes Flehen.
Denn egal, wohin wir kommen und wie sehr wir den Gedanken an "Heimat"
hinter uns lassen, immer haben wir eine Identität angenommen, die
uns allen gemeinsam ist: die des Fremden. Der simple Spruch "Jeder
ist Ausländer, fast überall" deutet auf eine kollektive
Identität hin, die das Produkt jahrhundertelanger Reisetätigkeit
ist, einer unendlichen Folge von Abreisen, Passagen und Ankünften.
Dadurch entstand eine globale Kultur, aus der ein Entkommen gar nicht
mehr möglich ist - womit wir bei einem weiteren Antrieb Messners
wären, der Zivilisationsflucht. Das fortgesetzte Reisen hat eine
globale Zivilisation geschaffen, die durch Transport- und Verkehrswege,
Produktions-, Verteilungs- und Kommunikationssysteme verbunden ist.
Bislang können wir diese Welt nicht verlassen. Da hilft es auch
nichts, Kompass und Landkarte wegzuwerfen, um eine Art Urzustand wiederherzustellen.
Da können wir auch nicht darauf warten, dass die Zivilisation irgendwo
wieder den Rückzug antritt - sie ist wie der Igel bei dem Wettlauf
mit dem Hasen immer schon da oder zumindest in Restbeständen vorhanden.
Nur mussten da nicht erst ein Messner oder postmoderne
Reisende wie Paul Theroux
oder Bruce
Chatwin
kommen, um die Zivilisation zum Teufel zu wünschen.
Das begann schon viel früher, nämlich im Jahre 1837. Damals
kehrte der Engländer Alexander
Kinglake
Europa den Rücken und reiste nach Palästina.
Er schrieb:
"Du verfolgst deinen Pfad durch das dicht gedrängte
Europa und endlich an den Ufern des Jordans wirst du dir freudig bewusst,
dass du nun an der Grenze aller gewohnten Respectabilität angelangt
bist. Hier auf der anderen Seite des Flusses [...] herrscht ein Volk,
das im Stande ist, dich zum Tode zu verurteilen, weil du nicht ein Vagabund,
weil du nicht ein Räuber, weil du nicht bewaffnet und ohne Obdach
bist. Es liegt etwas Schönes darin - Gesundheit, Behaglichkeit
und Stärke für einen Mann, der aus purer Langeweile über
diese arme, gute, mittelalterlich verdienstliche, gebildete, pedantische,
sich so viel Mühe gebende Gouvernante Europa dem Tode nahe ist."
Kinglake machte einen Fehler, den nach ihm viele Zivilisationsflüchtige
begingen. Er verklärte die vermeintliche "Unordnung"
des Orients zu einer Flucht in die gute alte Zeit, als die Menschen
noch monatelang im Sattel saßen. Als er den Jordan überquert
hatte, verhielt sich eine Gruppe von Nomaden ganz anders als erwartet:
Sie boten ihm nicht Brot und Salz als Zeichen des Friedens an, sondern
raubten ihn aus. Später fand er heraus, dass die Nomaden weder
Brot, Salz noch andere Lebensmittel besaßen und nach einer Möglichkeit
suchten, in die besiedelten Landstriche zurückzukehren. Er musste
erkennen, dass seine Flucht misslungen war: "Wo auch immer der
Mensch wandert, so bleibt er immer an die Kette gefesselt, die ihn an
seines Gleichen bindet."
Kinglake versuchte, sich aus einem System von Verboten
und Verdrängungen zu befreien, nahm diese Verbote und Verdrängungen
aber mit sich und scheiterte daran. Er definierte seine Identität
ausschließlich im Hinblick auf eine andere, gegensätzliche
Welt. Das schlug fehl, weil diese Welt nicht seinen dialektischen Erwartungen
entsprach. Sie war anders als das Bild, was er sich von ihr gemacht
hatte, kein Gegenstück zur so genannten Zivilisation, sondern ein
rudimentärer Teil von ihr. Indem er sein negatives Bild von Europa
als Maß der Dinge mit sich herumtrug, löste er sich letztlich
nicht von der als belastend empfundenen Zivilisation. Er blieb ihr Gefangener.
Anders
formuliert: Er ließ sich nicht auf die Fremde ein und blieb schon
im Ansatz stecken - bei der Abreise und dem Bedürfnis danach. Wer
im Fremden immer nur das Vertraute wiedererkennen will - oder das exakte
Gegenteil davon - braucht gar nicht erst aufzubrechen. Aber nicht jeder
Reisende ist so verbohrt wie Kinglake. Während man unterwegs ist,
kann man seine vorgefasste Meinung ja auch revidieren.
Eine Reise besteht aus einer Abfolge verschiedener
Erfahrungen: Abreise, Passage und Ankunft. Eric Leed erläutert
diese Unterteilung wie folgt: "Eine Abreise kann zum Beispiel die
Antwort auf die Bedürfnisse nach Loslösung und Ungebundenheit,
Läuterung, Freiheit, "Individualität", Flucht oder
Selbstfindung sein. Die Passage stillt und erzeugt ein Bedürfnis
nach Bewegung, kann aber auch andere, neue Bedürfnisse wecken:
nach Stabilität in einem Zustand des Ungleichgewichts, nach fester
Orientierung in einer in ständigem Fluss befindlichen Welt, nach
Beständigkeit inmitten des Wandels. Die Ankunft befriedigt das
Bedürfnis nach menschlichen Kontakten und Bindungen, nach Zugehörigkeit,
nach Definition, ja sogar nach Eingrenzung, und kann wiederum ein wachsendes
Bedürfnis nach Abreise, Freiheit und Flucht wecken."
(...)
Schon im 12. Jahrhundert, als Chrétien de Troyes
seinen Yvain
verfasste, begannen die ersten zweckfreien Reisen, große Unternehmungen,
die freiwillig unternommen wurden. Sie dienten dazu, den Charakter des
Betreffenden zu "erweisen", wie es hieß. (...) Damals
wussten die kleinen Leute gar nicht, was das ist: "zu einem Abenteuer
ausziehen, um Rittertugend und Kühnheit zu erproben". Wenn
einer dieser Ritter im Wald auf einen Hirten traf, dann griff sich der
an den Kopf: Wagnisse eingehen, sich freiwillig in Gefahr begeben, unberechenbare
Risiken auf sich nehmen - und dies alles auch noch voller Begeisterung!
Die Helden aus den antiken Sagen haben Gefahren noch notgedrungen in
Kauf genommen. Ritter wie "Yvein" sehnten sie dagegen regelrecht
herbei.
(...)
Einfach war das Reisen in früherer Zeit nicht
gerade. Wie viele Vorbereitungen da allein zu treffen waren! Unser Reisepass
ist nichts gegen die Passagierscheine, Visa und Empfehlungschreiben,
die man damals brauchte. Landkarten, Geldgutschriften und Gesundheitszeugnisse
mussten beschafft werden. Und erst die verschiedenen Währungen,
die alle naslang wechselten: Gulden, Piaster, Dublonen, Zechinen, Dukaten,
Pistolen, Soldis, Paolis, Testonis... Das waren noch harmlose Formalitäten.
Richtige Gefahr drohte von der Natur: Kälte, Sümpfe, Wölfe
- um nur die Widrigkeiten in den gemäßigten Klimazonen zu
nennen. Und in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges konnte
es einem passieren, dass man von Soldatenwerbern in den Armeedienst
gepresst wurde.
(...)
In der Neuzeit vollzogen sich dann aber fundamentale
Wandlungen im Verkehrswesen, wodurch sich auch das Zeit- und Raumempfinden
der Menschen veränderte. Es war nicht mehr am wichtigsten, gesund
anzukommen, sondern die Reise musste auch in einer angemessen Zeitspanne
vonstatten gehen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte sich auch
ein kommerzielles Bewirtungswesen. Zuvor gab es nur geburts- und berufsständische
Unterkünfte wie Zunfthäuser und Nonnenklöster.
Der Tourismus war aber noch einer elitären Minderheit vorbehalten.
Wie der Name schon sagt: eine Tour, vor allem eine Grand Tour quer durch
Europa, konnte sich nicht jeder leisten. Schon gar nicht einfach so
zur Bildung, als Krönung einer guten Erziehung, wie es bei den
Engländer Sitte war. Ein Jahr und länger bereisten die jungen
Gentlemen Frankreich, Italien und Deutschland, wobei ihnen entsprechendes
Personal alle lästigen Pflichten abnahm. Sir Horace Walpole beispielsweise,
der vierte Earl of Orford, überquerte die Alpen in einer offenen
Sänfte, dick eingepackt in Biberfell und Bärenpelze. Allerdings
wurde er dabei von einer tragischen Begebenheit erschüttert:
"Ich hatte einen kleinen schwarzen Spaniel aus
der Züchtung König Charles' mitgenommen, das niedlichste,
fetteste, liebste Geschöpf! Ich hatte ihn aus der Kutsche gelassen,
damit er Luft schnappen konnte, und er watschelte vor den Pferden her,
auf dem höchsten Punkt der Alpen, am Rand eines Fichtenwaldes.
Da sprang pfeilschnell ein junger Wolf heraus, packte den lieben, armen
Tory an der Kehle, kletterte, bevor wir es verhindern konnten, an der
Felsseite hoch und verschwand mit ihm. Der Postillion sprang vom Kutschbock
und schlug mit der Peitsche nach ihm, aber vergebens..."
Wenigstens folgte die Reiseroute im 18. Jahrhundert
einem festen Schema. Auf einer Grand Tour war es unvorstellbar, mal
eben an Orten anzuhalten, die nicht zu den geplanten Stationen gehörten
oder keine hochberühmten Städte waren. Dazu gehörte neben
Rom, Neapel und Venedig vor allem Florenz. Englische Schöngeister
fühlten sich in diesem kunstsinnigen "Little London"
besonders wohl. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen Eisenbahn und Dampfschifffahrt
auf. Die Verkehrswege wurden sicherer, die Reisedauer kürzer. Man
wanderte weiter nach Griechenland. Edward Dodwell schilderte seine Eindrücke
von Thessalien
so:
"Die Szenerie ist reich an fernen Ausblicken,
ausgeschmückt mit jeder erdenklichen Vielfalt der Nähe. Die
Natur scheint hier ihr attraktivstes Gewand angelegt zu haben und schwelgt
in ihren phantastischsten Formen. Hier findet der Sinnliche seine Augenlust,
der Romantiker seine Anregungen, der Erschöpfte seine Ruhe. Wohl
kein Ort kann die Einbildungskraft stärker erregen oder die Aussicht
mit einer größeren Überfülle an Reizen dankbarer
gestalten. Anknüpfungen an die alten Zeiten sind überall zu
finden; und vieles scheint in spontaner Selbstverständlichkeit,
ohne kunstvolle Kulivierung, aus dem fruchtbaren Schoß der Erde
hervorzuwachsen."
Das klingt schon sehr nach dem romantischen Reisenden,
der abseits der Stadtzentren und ausgetretenen Pfade Entdeckungen macht.
Im Gegensatz zu den Aufklärern suchten die Romantiker nicht das
Eigene im Fremden, sondern fühlten sich von der Vielfalt der besuchten
Länder und dem Schrecklichen, Erhabenen und Pittoresken der Landschaft
angezogen. Die neue Auffassung von der Natur kam ohne claude glass aus,
jenem kleinen konvexen Spiegel aus gebräuntem Glas, mit dem man
in einen gerahmten Ausschnitt der Landschaft blicken konnte und der
die Natur auf ein schönes Bild reduzierte.
(...)
Johann Gottfried Seume reiste auf Schusters Rappen
nach Syrakus, und nicht mit der Kutsche wie der Dichterfürst Goethe.
Auf dem Weg nach Sizilien hatte Seume nur das Nötigste im Tornister:
"weiße und schwarze Wäsche" sowie einige Bände
Homer, Theokrit und Vergil. Um an anderen Orten zu schreiben und zu
komponieren, zu skizzieren und zu malen, zu lesen und zu erleben, reichen
eben Stift, Papier und ein waches Auge. Seume war der erste Rucksacktourist.
Seine Reisebeschreibungen
würden heute als "Lonely Planet"-Führer veröffentlicht.
Auch so eine Illusion der alternativen Reisekultur.
Als ob unser Planet noch lonely sein könnte, wo jeder Student in
den Semesterferien überall seine Trekking-Sandalen hingesetzt hat.
"Lonely Planet"-Reiseführer sind nichts anderes als der
so genannte Murray, die englische Entsprechung für den deutsche
Baedeker, beide im 19. Jahrhundert zum ersten Mal erschienen. Die "Kunst
des Reisens" wurde schon damals zur Routine. Thomas Cook eröffnete
1845 das erste Reisebüro der Welt und bot organisierte Rundreisen
an. Das Reisen wurde unabhängig von Geschlecht, Alter und Klassenzugehörigkeit
für Jedermann möglich, für Einzelne und für Gruppen.
(...)
Zurück zu Ritter "Yvein". Uns interessieren
ja keine Dutzenderfahrungen, sondern das Neue, Unentdeckte, Außergewöhnliche.
Aus und vorbei, wie Lévi-Strauss erkannte. "Richtiges"
Reisen ist nur noch aus zweiter Hand möglich. Schlimmer noch: Das
Meiste, was wir in der vermeintlichen Fremde erfahren können, gleicht
sich im Zuge der Globalisierung immer mehr an. Dabei ist doch die Freude
an Unterschieden ein wichtiges Motiv für das Reisen, für interkulturelle
und interethnische Kontakte. Wie ernüchternd, wenn man in München,
Moskau und Kairo vor der gleichen Burger-Filiale steht!
Aber kann nur das radikal Neue etwas zur Bildung und Befreiung der Persönlichkeit
beitragen? Muss man denn immerzu als Erster auf einem Berggipfel ankommen,
um individuell neue Erfahrungen zu machen?
Das Außergewöhnliche liegt oft direkt vor
der Haustür. Parallel zur Grand Tour erfreute sich zum Beispiel
die Home Tour, die Reise durch das eigene Land, schon früh großer
Beliebtheit. Roger Willemsen hat das kürzlich in Deutschland
gemacht und jede Menge aufschlussreicher Erfahrungen mitgebracht. In
gewisser Weise ist das eine neue Spielart der alten philosophischen
Reise: die Suche nach kulturellen Ursprüngen, eine buchstäbliche
Rück-Reise zu den Anfängen. Was einem früher selbstverständlich
erschienen ist, sieht man plötzlich mit den "unschuldigen"
Augen eines Fremden.
Das trifft auf jede Rückkehr nach Hause zu. Und
leider ist es kein Gewinn, sondern ein Verlust der Unschuld, wenn man
von einer Reise zurückkommt. Man hat dann ja schon wieder einen
Teil der Welt gesehen, ihn "aufgebraucht", und damit einen
Teil des Unbekannten verloren. Zugleich beurteilt man aber das Vertraute
auf der Grundlage eines erweiterten Erfahrungsschatzes, wodurch es eine
neue Qualität bekommt. Der Verlust an Unschuld in der Fremde ist
auch ein Gewinn an Unschuld, Einfachheit und Jugend angesichts des Vertrauten.
Darüber hinaus beinhaltet jede Rückkehr immer schon den Antrieb
zu neuen Reisen. Aus jeder Rückkehr erwächst ein erneuter
Aufbruch - um erneut der Illusion einer "richtigen" Reise
aufzusitzen.
Es kommt nicht darauf an, was man in der
Fremde erlebt, sondern wie man es erlebt.
Der fatalistische Reisende steht vor den Phänomenen dieser Welt
und sagt: Hätte ich mir sparen können. Die meisten Orte auf
diesem Planeten müsse es eigentlich gar nicht geben. Man könne
sie getrost sich selbst überlassen, da seien sie am besten aufgehoben.
Dagegen sagt der idealistische Reisende: Gut, dass
es diese Orte gibt. Sonst wäre ich mir selbst überlassen und
hätte keine Bezugspunkte, mit deren Hilfe ich das Eigene und das
Fremde definieren könnte - selbst, wenn sie nur graduell voneinander
abweichen. Ich könnte keine Unterschiede und Trennungen erfahren
- und sei es nur deshalb, um sie zu überwinden und dadurch Teil
der kollektiven Identität des Fremden zu werden. Außerdem
braucht der Reisende den Wechsel, Ost und West, Land und Meer, Berg
und Tal - die Anschauung von Gegensätzen bringt oft neue Energien
und Entwicklungen hervor. Paul Bowles, der lebenslang ein Reisender
war, sah das ähnlich:
"Jedesmal, wenn ich an einen Ort komme, den ich
noch nie gesehen habe, hoffe ich, er werde sich so weit wie möglich
unterscheiden von den Orten, die ich kenne [...]. Ich nehme an, es ist
für den Reisenden ganz natürlich, wenn er Abwechslung und
Vielfalt sucht. Es ist der 'menschliche Faktor', der ihm die Unterschiede
am deutlichsten vor Augen führt. Wenn die Menschen und ihre Art
zu leben überall gleich wären, dann wäre es ziemlich
sinnlos, sich von einem Ort zu einem anderen zu begeben."
Der vollständige Essay wurde am 24.2.2002 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.
© Thomas Kastura