Lebensläufe
Was
macht unsere Schriftstellermischpoke eigentlich, wenn sie gerade mal
nicht über dem großen deutschen Gegenwartsroman brütet
oder die Bewerbungsunterlagen für den Stadtschreiberpreis von Bad
Oldeslohe zusammenstellt? Arbeiten natürlich, denn Freizeit haben
Dichter nicht. Ein mehr oder weniger bekränztes Haupt ist ja immer
im Dienst, steht immer unter Strom, hat die Fühler allzeit ausgefahren
wie der Grashüpfer Flip bei
Biene
Maja
.
Arbeiten, das heißt in diesem Fall also unentwegt Denken,
Entwerfen, Schreiben - muss es aber nicht. Denn manch ein Maestro der
Tastatur oder des Tintenfasses geht allen Ernstes noch einem so genannten
bürgerlichen Beruf nach. Früher, als bekanntlich noch alles
anders war, soll das gar nicht so selten gewesen sein. Früher,
das heißt im 19. Jahrhundert. Zuvor waren Schriftsteller entweder
von Adel, hatten einer Professorenstelle (was nicht viel hieß)
oder schlugen sich als Hauslehrer, Pfarrer und Amtmänner durch.
Ein paar waren auch am Theater, das damals so viel Ansehen genoss wie
zwei ukrainische Akkordeonspieler in der Fußgängerzone.
Als das Bürgertum dann vernünftig lesen und schreiben
lernte, übten Schriftsteller nebenher ganz normale Berufe aus.
Man fragt sich allerdings, wie all die Schnitzlers, Döblins, Benns
zwischen ihren Patienten noch Zeit für die Schreiberei fanden.
Vermutlich gingen sie nicht zum Golfspielen, wie das Ärzte heute
tun, sondern klemmten sich nach den Sprechzeiten hinter ihren Sekretär.
Juristen wie
E. T. A. Hoffmann
und
Theodor Storm
verschafften sich etwas Luft, indem sie dringende Prozessakten auf verschlungene
Verwaltungswege schickten. Und Kaufleute wie
Georg
Kaiser
und
George
Bernard Shaw
konnten sicher ein wichtiges Geschäftsessen vorschützen,
um im Caféhaus oder Pub ein paar Zeilen niederzulegen.
Die meisten hingen den schnöden Broterwerb dann irgendwann
an den Nagel, um sich ganz den Musen zu widmen. Dagegen konnten Journalisten
und Germanisten ihren Beruf von vorneherein mit der Berufung verbinden.
Eine Zeit lang galt die Fähigkeit, einen geraden Satz zu formulieren,
sogar als eine Art Vorbildung fürs Literatentum. Inzwischen ist
sie einer Schriftstellerlaufbahn eher abträglich, weil reißerisches
Rhabarbern und wissenschaftliche Wurschteleien den Stil ruinieren.
Bleibt die Frage, wovon man denn leben soll, bevor das Erstlingswerk
die Gesichtskontrolle der Verlage passiert und auf den Bestsellerlisten
in güldenen Lettern erstrahlt. Die wenigsten setzen sich ja hin
nach Mittlerer Reife oder Abitur und sagen: So, von jetzt an bin ich
Schriftsteller und los geht's. Was also tun vor dem ersten Buchstaben,
Satz oder Vers?
Als überaus hilfreich erweist sich eine bewegte und literarisch
unbedenkliche Vergangenheit. Sie sollte ziellos wirken, aber irgendwie
getrieben und auf jeden Fall ohne erkennbare Ambitionen.
Erwin
Strittmatter
verkörperte den Prototyp dieses coolen Tausendsassas.
Er war Bäcker, Kellner, Tierwärter, Chaffeur, Hilfsarbeiter
in einem Wollwerk, Soldat, Amtsvorsteher für sieben Dörfer,
Zeitungsredakteur und erst danach freier Schriftsteller. Heute würden
ihm die Lektoren gleich dutzendweise an der Lederjacke hängen.
Einerseits weil sie sich selber so spießig und unspektakulär
vorkommen in ihren tristen Bürokomplexen. Andererseits holen sie
mit ihrer kühnen Verlegertat einen Sozialfall von der Straße,
und das ist ja auch schon was.
Darüber hinaus zeigt Strittmatters Beispiel, dass es nicht
reicht, einfacher Maurergeselle oder Postbote oder Kartenabreißer
im Kino zu sein. Die Mischung macht's wie bei dem Dänen
Peter
Høeg
, der Balletttänzer, Schauspieler, Seemann und Lehrer
an der VHS war, bevor es mit Fräulein Smilla klappte. In dieser
schönen Reihe sticht "Lehrer an der VHS" etwas unangenehm
heraus, was wohl der Grund dafür war, dass erst Høegs zweiter
Roman eine richtige Zugnummer wurde.
Wenn man einmal ein Auge dafür entwickelt, ist es immer
wieder erstaunlich, was unsere Gegenwartsautoren früher so alles
trieben.
Stewart O'Nan
arbeitete
als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell Universität
Kunst - sehr hübsch. Oder
Irvine
Welsh
, der heroinabhängig war und nach der Entziehung ins Immobiliengeschäft
einstieg. Respekt! Wie sieht es da bei den Deutschen aus?
Durs
Grünbein
arbeitete im mathematisch-physikalischen Salon des
Dresdner Zwingermuseums, bevor ihn Heiner Müller entdeckte. Wie
bitte? Mathematisch-physikalischer Salon? Werden da Zahlen rezitiert
oder Gleichungen ausgestellt? In der Vita macht das jedenfalls nicht
viel her. Hört sich an wie eine Hausmeisterexistenz, tragisches
Aufseherschicksal, immerhin naturwissenschaftlich, aber in keinem Fall
imagebildend. Vorzeigbarer ist da
Helmut
Krausser
, der zwar nichts Gescheites gelernt hat, aber 12.000 Mark
Literaturstipendium in einer Nacht verprasste und seinen Wohnsitz kurzfristig
unter den Isarbrücken aufschlug. Außerdem betätigte
er sich als Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist, Sänger
in einer Rock 'n' Roll-Band und brach ein Studium der provinzial-römischen
Archäologie ab. Diese kantige Assemblage aus Bildungsbürgertum,
Popkultur und sozialem Beat wird den Klappentext seiner Karriere noch
lange schmücken.
Demgegenüber haben es all die langweiligen Dozenten, Datenverarbeiter
und "Business Content Modeller im Bereich Business Information
Warehouse" schwer. Vielleicht sollte man für diese Mühseligen
und Beladenen Automaten aufstellen, an denen sich fiktive Lebensläufe
ziehen lassen. Oben schmeißt man fünf Mark hinein und unten
kommt ein Kärtchen raus auf dem steht: Nach mehrjährigen Reisen
in Afrika und Asien arbeitete er als Hähnchenbrater in Kuala Lumpur
und ging als Drogenkurier nach Deutschland, wo er im Gefängnis
ein Studium des Wirtschaftsrechts begann. Danach betätigte er sich
als Kaufhausdetektiv, lieferte Essen auf Rädern aus und erlernte
den Bau von Doppelrohrblattinstrumenten. Er war persönlicher Sekretär
von
Ernst Jünger
und schließlich Gag-Schreiber für eine Late-Night-Show.
Das hört sich schon ganz gut an. Fehlt nur noch der dazugehörige
Debütroman. Von so einer Biographie würde man sich zum Beispiel
einen philosophischen Thriller nach dem Fugenprinzip erwarten, oder
eine Knastgeschichte mit dem Titel "Die Broilersonate". Wenn
es auch dafür einen Automaten gäbe, liefen im Literaturbetrieb
nur noch moderne Gesamtkunstwerke herum, bei denen Person und Werk zur
Deckung kommen.
Keinen Automaten hatte
Julian
Barnes
nötig, der ungeschlagene Meister des fiktiven Lebenslaufs.
Er studierte Jura und Französisch in Oxford, war Lexikograph für
das Oxford English Dictionary (Abteilung "Sport und Obszönitäten"),
sowie Literatur- und TV-Kritiker. So weit, so gut. Für sein Krimi-Pseudonym
Dan Kavanagh dachte sich Barnes aber etwas besseres aus: Nach einer
bewegten Jugend heuerte Kavanagh als Matrose auf einem liberischen Tanker
an. Nachdem er in Montevideo heimlich von Bord gegangen war, schlug
er sich in verschiedensten Jobs durch Nord- und Südamerika: Er
war Ochsenringer, Rollschuhkellner in einem Drive-In-Restaurant in Tuscon
und Rausschmeißer in einer Schwulen-Bar in San Francisco. Es folgten
ein paar Monate als Unterhaltungsoffizier auf einem japanischen Supertanker.
Doch danach verliert sich seine Spur: Kavanagh behauptet, er habe auf
der kolumbianischen Kokainroute Leichtflugzeuge geflogen. Fest steht
nur, dass er einmal im internationalen Flughafen von Toronto als Gepäckmann
angestellt war.
Die
Glosse wurde am 10.10.1999 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.
©
Thomas Kastura