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Philippe Claudel: Die grauen Seelen

Es gibt Bücher, bei denen man auf jeder Seite sagt: Wie kommt man nur auf solch elegante Formulierungen? Und alle fünf Seiten bleibt einem aufgrund einer messerscharfen Beobachtung die Spucke weg. Und alle zehn Seiten schmilzt man einfach tief bewegt dahin. "Die grauen Seelen" von Philippe Claudel ist eines dieser Bücher.

Warum? Diese Frage stellt sich auch der Ich-Erzähler, Polizist in einer lothringischen Kleinstadt. Warum wurde die zehnjährige Belle de Jour im Dezember 1917 erdrosselt? Warum fand man den Leichnam in der Nähe des Schlosses eines honorablen Staatsanwalts? Und was hat der abstoßende Richter Mierck, der am Tatort weiche Eier verspeist, seine "kleinen Welten", wie er sie nennt, mit dem Fall zu tun?

Wer die Filme von Jean-Pierre Jeunet mag, der mit "Mathilde" jüngst wieder einen Erfolg feierte, wird Claudels Mischung aus Kriegsroman und Krimi verschlingen. Beide stellen mit Hilfe eines akribisch ausdifferenzierten Figurenspektrums die Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkriegs dar.

Diese Epoche ist seit kurzem wieder ins Blickfeld der Literatur geraten (u.a. in Henning Mankells neuem Roman „Tiefe“ ). Sie steht für einen radikalen Bruch im idealistischen Selbstbild der Zivilisation, für eine beispiellose Verrohung, Enthemmung und industriemäßige Lebensvernichtung. Philippe Claudel zeichnet davon nur einen kleinen Ausschnitt, als Schauplatz wählt er ein frontnahes französisches Städtchen, von dem aus der Geschützdonner zu hören ist. Das massenhafte Sterben in den Schützengräben vollzieht sich jenseits einer Anhöhe. Es lässt sich nicht ignorieren, allein schon wegen der Militärkonvois und Verwundetentransporte. Die Bevölkerung schaut trotzdem lange Zeit weg.

Der Mord an dem Mädchen verzahnt die große Welt des Krieges mit diesem zivilen Locus Amoenus. Zwei Deserteure stehen unter Verdacht. Um ihnen ein Geständnis abzupressen, setzt sich die Justiz über Recht und Gesetz hinweg. Doch auch in vielen anderen Begebnissen und Schicksalen sind beide Sphären untrennbar miteinander verwoben. Claudel macht den Krieg nicht zur anonymen Ursache des Verbrechens. Zerstörungkraft und Sadismus, so seine fatalistische Kernaussage, liegen im Wesen der Menschen begründet. Denn: "Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele, hübsch grau, wie wir alle."

Claudel erzählt konventionell, aber auf meisterlichem Niveau, aus der Rückschau, aber in mäandernden Wendungen. Als sich der Mordfall am Ende wie von selbst löst, ist das Whodunnit längst an den Rand der Leseerwartung gerückt. Ergreifender und letztlich spannender sind drei parallel verlaufende Tragödien. Eine wunderschöne junge Lehrerin opfert sich für ihren Geliebten. Ein einsamer Staatsanwalt zerbricht an seinen Wertvorstellungen und Illusionen. Und der Ermittler geht an seinen Selbstvorwürfen zugrunde. Er hat seine hochschwangere Frau allein gelassen, um seine Pflicht als Polizist zu tun. Die Frau stirbt an einer Frühgeburt, die Arbeit des Polizisten erweist sich als sinnlos.

Der Autor, 1962 in Dombasle-sur-Meurthe in Lothringen geboren und für "Die grauen Seelen" preisgekrönt, lässt seinen Figuren wenig Hoffnung. Dennoch bleibt genug Raum für einen abgebrühten Humor und poetische Sprachbilder. Ein Motto von Jean-Claude Tardif steht dem Buch voran: "Der Gerichtsschreiber der Zeit sein, ein beliebiger Beisitzer, den man herumschleichen sieht, wenn Mensch und Licht sich vermischen." Das ist Philippe Claudel gelungen.

© Thomas Kastura



Die Rezension wurde am 10.12.05 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.

Philippe Claudel: Die grauen Seelen
Aus dem Französischen von Christiane Seiler.
Reinbek: Rowohlt 2004. 239 Seiten. 19,90 €



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