Diese
Epoche ist seit kurzem wieder ins Blickfeld der Literatur geraten (u.a.
in Henning Mankells neuem Roman „Tiefe“
).
Sie steht für einen radikalen Bruch im idealistischen Selbstbild
der Zivilisation, für eine beispiellose Verrohung, Enthemmung und
industriemäßige Lebensvernichtung. Philippe Claudel zeichnet
davon nur einen kleinen Ausschnitt, als Schauplatz wählt er ein
frontnahes französisches Städtchen, von dem aus der Geschützdonner
zu hören ist. Das massenhafte Sterben in den Schützengräben
vollzieht sich jenseits einer Anhöhe. Es lässt sich nicht
ignorieren, allein schon wegen der Militärkonvois und Verwundetentransporte.
Die Bevölkerung schaut trotzdem lange Zeit weg.
Der Mord an dem Mädchen verzahnt die große
Welt des Krieges mit diesem zivilen Locus Amoenus. Zwei Deserteure stehen
unter Verdacht. Um ihnen ein Geständnis abzupressen, setzt sich
die Justiz über Recht und Gesetz hinweg. Doch auch in vielen anderen
Begebnissen und Schicksalen sind beide Sphären untrennbar miteinander
verwoben. Claudel macht den Krieg nicht zur anonymen Ursache des Verbrechens.
Zerstörungkraft und Sadismus, so seine fatalistische Kernaussage,
liegen im Wesen der Menschen begründet. Denn: "Nichts ist
ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist
es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele,
hübsch grau, wie wir alle."
Claudel erzählt konventionell, aber auf meisterlichem
Niveau, aus der Rückschau, aber in mäandernden Wendungen.
Als sich der Mordfall am Ende wie von selbst löst, ist das Whodunnit
längst an den Rand der Leseerwartung gerückt. Ergreifender
und letztlich spannender sind drei parallel verlaufende Tragödien.
Eine wunderschöne junge Lehrerin opfert sich für ihren Geliebten.
Ein einsamer Staatsanwalt zerbricht an seinen Wertvorstellungen und
Illusionen. Und der Ermittler geht an seinen Selbstvorwürfen zugrunde.
Er hat seine hochschwangere Frau allein gelassen, um seine Pflicht als
Polizist zu tun. Die Frau stirbt an einer Frühgeburt, die Arbeit
des Polizisten erweist sich als sinnlos.
Der Autor, 1962 in Dombasle-sur-Meurthe in Lothringen
geboren und für "Die grauen Seelen" preisgekrönt,
lässt seinen Figuren wenig Hoffnung. Dennoch bleibt genug Raum
für einen abgebrühten Humor und poetische Sprachbilder. Ein
Motto von Jean-Claude
Tardif
steht dem Buch voran: "Der Gerichtsschreiber der Zeit
sein, ein beliebiger Beisitzer, den man herumschleichen sieht, wenn
Mensch und Licht sich vermischen." Das ist Philippe Claudel gelungen.
©
Thomas Kastura
Die
Rezension wurde am 10.12.05 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.
Philippe
Claudel: Die grauen Seelen
Aus dem Französischen von Christiane Seiler.
Reinbek: Rowohlt 2004. 239 Seiten. 19,90 €
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