1916,
ganz unten: Bei Erdarbeiten unter dem East River kommt es zu einem spektakulären
Unfall. Nathan Walker aus Georgia wird mit einigen anderen Arbeitern
vom Tunnel in den Fluß "geblasen". Er überlebt,
doch die Leiche von Con O’Leary, einem irischen Einwanderer, ist
unauffindbar. Wenige Tage später wird Cons Tochter Eleanor geboren.
Mit achtzehn Jahren heiratet sie dann Nathan, den Freund der Familie.
Zeit ihres Lebens ist die Ehe Anfeindungen ausgesetzt. "In manchen
Gegenden kommt man dafür ins Gefängnis. In manchen Gegenden
wird man umgebracht."
So wie Nathan seine Gesundheit für den Aufbau Amerikas ruinierte,
geht es seinem Sohn Clarence, der im Korea-Krieg ein Auge verliert.
Gerade als der Kriegsinvalide dabei ist, sich mit seiner indianischen
Frau Louisa ein Leben aufzubauen, wird seine Mutter Eleanor von einem
weißen Rassisten überfahren. Clarence nimmt Rache und erschießt
dabei einen Polizisten. Seine Flucht - wir schreiben das 1955 - endet
im Leichenschauhaus. Wieder bleibt ein Kind zurück, Clarence Nathan
Walker, wieder geht es irgendwie weiter, diesmal hoch in der Luft: Nathans
Enkel zieht als Stahlbauer die Wolkenkratzer Manhattans in den Himmel,
verdient gutes Geld, gründet eine Familie.
1986, in einem Eisenbahntunnel unter dem Fluß: Nathan, der inzwischen
neunundachtzig ist, führt seinen Enkel zu der Stelle, an der vor
siebzig Jahren alles begann. Der Alte schwelgt in der Vergangenheit
- und wird auf dem Rückweg von einem Zug erfaßt. Der Schock
über den Tod des geliebten Menschen - ein durchgängiges Element
des Romans - treibt Clarence Nathan Walker in den Wahnsinn. Verlassen
von Frau und Tochter wird er zu Treefrog, einem Obdachlosen, der sich
im Tunnellabyrinth unter dem Riverside Park ein "Nest" gebaut
hat.
Sein Existenzkampf in der brutalen Welt der Outcasts ist die Parallelhandlung
zur Familiengeschichte. Treefrog flüchtet sich in den Alkohol und
hat sich manische Tics zugelegt: Ersatzhandlungen, die das verlorene
Gleichgewicht seines Lebens wiederherstellen sollen. Schließlich
verliebt er sich in die drogenabhängige Angela. Ihr beichtet er
eine Schuld, die nie ganz geklärt wird (andeutungsweise ist vom
Mißbrauch der kleinen Tochter Lenora die Rede). Geläutert
erlebt Treefrog eine Auferstehung aus der Ohnmacht und ihren niederschmetternden
Varianten und verläßt den Tunnel.
Der Roman ist ein dunkler, dunkler Gang durch die Nacht. McCanns Melancholie
ist deswegen so bitter, weil er seine Figuren immer wieder Hoffnung
schöpfen läßt, um sie danach nur noch tiefer zu versenken.
Ein Blues ist die verschwiegene Formel des Buches: "Lord, I’m
so lowdown I think I’m looking up at down. So tief unten bin ich,
Herr, ich sag dir, tief ist noch über mir." McCann führt
uns in die Tunnel von New York, die keine Unterwelt sind, sondern ein
surreales Purgatorium. Dort rasen Züge mit ohrenbetäubendem
Lärm hindurch. Im Winter herrschen tödliche Minusgrade, vor
allem aber Vergessen und Verzweiflung: "Treefrog, der unter dem
Gitter sitzt und zu den nichtssagenden Sternen hochblickt, weiß,
das das Licht, das auf seine Augen trifft, seine Reise Jahre zuvor begonnen
hat. Da ist nichts da oben außer vergangener Bewegung, Dingen,
die seit langem implodiert und explodiert und für immer verschwunden
sind."
Doch unter der Erde finden sich auch Hoffnungszeichen: ein abgestorbener
Baum, ein Dali-Gemälde an der Wand, Lichtkegel in der alles nivellierenden
Dunkelheit. Meisterhaft hat Colum McCann seine Szenenbilder hingesetzt,
entwickelt die gründlich recherchierten Handlungsstränge und
vergißt darüber nicht die Wirkmächtigkeit der kleinen
Gesten, Bewegungen, Eindrücke. Seine glänzenden stilistischen
Fähigkeiten stellte er schon im Gesang
der Kojoten
unter Beweis. Auch dort erfand er in letzter Sekunde
ein Ende, das die Vergangenheit mit der traurigen Gegenwart ein Stück
weit versöhnt.
Die Amerikaner wissen nicht so recht, wie sie mit dem Buch umgehen sollen
(obwohl sie es natürlich loben). Denn McCann lebt zwar in New York
City, ist aber Ire. Und keiner, so die New York Times, könne eine
Erzählerstimme so mit Schrecken aufladen wie ein Ire. Nun ist McCann
ohne Zweifel ein glänzender Stilist europäischer Prägung.
Das heißt, er schwelgt schon mal länger als unbedingt nötig
in den schwarzen Stimmungen der Seele. Seinen Roman hat er Amerika und
vor allem New York allerdings auf den Leib geschrieben. Nirgendwo sonst
ist der Sozialdarwinismus so unbarmherzig am Werk wie hier. Die Bedingungen
sind hart, der Ton ist rauh, die Stadt verlangt ihren multinationalen
Bewohnern alles ab. Nathan sagt einmal, daß in der Dunkelheit
des Tunnels alle gleich seien. Ideale, so könnte man ergänzen,
sind also unter die Erde verbannt, in einen Subway-Tunnel, den Geburtskanal
der modernen USA. In den Tunneln konnten sich die Einwanderer einen
Weg in die Gesellschaft graben - ihre Nachkommen kehren in die Tunnel
zurück, an den Rand der Gesellschaft, um sich selbst wiederzufinden.
Wenn die Liebe in diesem Kreislauf nicht so eine wichtige, gleichsam
erlösende Rolle spielen würde, wäre es kaum auszuhalten.
Manche Wendungen nehmen sich zwar etwas Forrest-Gumphaft aus, aber das
Buch bewahrt sich seine Ehrlichkeit und wird auch am Schluß nicht
süßlich, eher eine "Bitter Sweet Sympony". McCann
hat die Gegengewichte schon richtig gesetzt, wie er überhaupt ein
Gespür für Stories und ihre fiktionale Einbindung besitzt.
Das liegt nicht unbedingt daran, daß er viel umhergereist ist
und deshalb viel zu erzählen hätte (nach dem Motto: Viel hilft
viel). Eine umfangreiche Stoffsammlung macht noch keine Romane. Dazu
gehört nicht nur die Fähigkeit, Figuren und Handlungen zu
erfinden, sondern auch ihre Erwartungen, Leiden und Enttäuschungen
ingeniös nachzufühlen und sichtbar zu machen. McCann ist das
jetzt schon dreimal auf eine Weise gelungen, die einen nicht losläßt.
Er wurde 1965 geboren. Wenn er sich nicht auf die faule Haut legt (oder
zum Film wechselt), wird von ihm noch ein beeindruckendes Gesamtwerk
zu erwarten sein.
©
Thomas Kastura
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