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Oliver Sacks: Die feine New Yorker Farngesellschaft

Sie machen eine Gruppenreise in den Süden und bringen jede Menge Erinnerungen und Anekdoten mit. Sie wissen Allerlei über fremde Kulturen und Gebräuche zu berichten, über ein exotisches Land und seine Bewohner. Als Naturliebhaber haben Sie unzählige Fotos geschossen von Pflanzen, Pflanzen und noch mehr Pflanzen. Die Frage ist nur: Wen interessiert das? Und wer möchte ein ganzes Buch darüber lesen? – Zunächst kann es helfen, wenn Sie Oliver Sacks heißen und ein berühmter Neurologe im Ruhestand sind, wenn Sie anregend erzählen können und ein eindrucksvolles Universalwissen besitzen. Noch besser ist es, wenn Sie einem seltsamen Verein namens "Die feine New Yorker Farngesellschaft" angehören:

"Es ist eine wunderbare Gruppe, denke ich – begeistert, unverdorben, kooperativ, vereint in der Begeisterung für Farne. Es sind Dilettanten, Liebhaber im besten Sinne des Wortes, obgleich etliche von uns über ein mehr als professionelles Wissen verfügen und enorm beschlagen sind. [...] Ich bin nur aus Neugier dabei."

Die New Yorker Farngesellschaft hat im 19. Jahrhundert ihre Wurzeln. Es ist eine Vereinigung von Amateurforschern, deren höchstes Glück darin besteht, Farne zu klassifizieren, immer in der Hoffnung, ein bislang unbekanntes Gewächs zu entdecken. Auf einer Exkursion nach Oaxaca in Mexiko stehen die Chancen dafür besonders gut. Alexander von Humboldt hat das vegetationsreiche Gebiet schon im Jahre 1803 besucht, und Oliver Sacks begibt sich in vielerlei Hinsicht auf seine Spuren.

Farne sind lehrreich. Ob Adlerfarn, Streifenfarn oder Frauenhaarfarn – diese uralten Pflanzen haben mit geringfügigen Veränderungen 350 Millionen Jahre Evolution überdauert und wecken ein Bewusstsein für die prähistorische Welt. Sacks versteht es, die zahlreichen Arten auf immer neue, enthusiastische Art zu beschreiben. Doch in Oaxaca sind auch die Überreste der Maya-Kultur und die Auswirkungen des Kolonialismus zu besichtigen, außerdem Kakaofabriken und Mescaldestillerien, Töpfermärkte und ein Teppichweberdorf, wo die leuchtend rote Koschinellenfarbe, einst kostbarer als Gold, auf natürlichem Wege hergestellt wird. Dafür werden die Larven von Schildläusen, die man nur auf bestimmten Kakteen in Mexiko und Mittelamerika findet, zu einem feinen Pulver zerrieben.

"Dieses Pulver besteht zu etwa zehn Prozent aus Karminsäure. [...] Nach der Reise forschte ich nach und stellte fest, dass die Herstellung synthetischer Karminsäure tatsächlich recht unkompliziert ist. Allerdings würde das Tausende Mexikaner arbeitslos machen und ein traditionelles, seit undenklichen Zeiten in der mexikanischen Kultur verankertes Handwerk auslöschen."

Die Koschinellenfarbe ist nicht das Einzige, was die Konquistadoren begehrlich fanden. Neben dem geraubten Silber und Gold brachten sie Tabak, Kartoffeln, Tomaten, Schokolade, Kürbisse, Chilis, Pfeffer, Mais, Gummi, Kaugummi und nicht zuletzt das Ballspiel nach Europa. Für all dies hat Oliver Sacks einen Blick. Ihm wird auf seiner Reise klar, dass auch in der Neuen Welt eine Wiege der Zivilisation stand. Damit befindet er sich erneut in der Gesellschaft Alexander von Humboldts. Natürlich sind die Entdeckungen des großen Naturforschers nicht mit den weitaus bescheideneren Beobachtungen seines New Yorker Bewunderers zu vergleichen. Die wissenschaftlichen und literarischen Verdienste von Oliver Sacks liegen woanders. In mehreren Büchern wandte er sich Menschen zu, die aufgrund neuraler Schäden am Verlust eines essentiellen Aspekts der Wahrnehmung leiden. Ob Gehörlosigkeit, Alzheimer, Schlafkrankheit oder Farbenblindheit – Sacks brachte uns Lebenswelten nahe, die den Gesunden oftmals wie ein trostloses Schattenreich erscheinen. Die selbe menschliche Wärme, die schon seine Fallgeschichten aus der Neurologie auszeichnet, durchzieht nun sein Mexikojournal. Herausragende Erkenntnisse enthält es allerdings nicht. Vielmehr besteht sein Vorzug darin, Sympathien für die Figur des Hobbyforschers zu wecken. So ist die Arbeit von Amateuren etwa in der Astronomie, Mineralogie und Ornithologie, bei der Suche nach Fossilien, seltenen Tieren und seltenen Pflanzen von großer Bedeutung.

"All diese Forschungsgebiete erfordern nicht so sehr eine akademische Ausbildung, sondern vor allem den geschärften Blick, der aus einer angeborenen Grundhaltung, einer Liebe zur Natur sowie Erfahrung und Leidenschaft entsteht. Dies ist es, was Menschen, die Amateure im besten Sinne sind, auszeichnet: Liebe, Leidenschaft für ihr Wissensgebiet und außerdem oft der Erfahrungsschatz eines Lebens voller präziser, in der Praxis gemachter Beobachtungen."

Als Reisender wie du und ich hebt sich Sacks wohltuend von all den Abenteurern und Extremisten ab, die über den Rand ihres Egos meist nicht hinausschauen. Unumwunden outet er sich als Tourist, seine Betrachtungen erstrecken sich auf die Hochkultur wie auf den Alltag. Vor allem aber regen seine Streifzüge den Leser an, es der skurrilen Farngesellschaft gleichzutun und auf dem Bauch liegend, die Lupe in der Hand, Feldforschung zu betreiben. Das Buch vermittelt eine Ahnung davon, wie erfüllend schlichte botanische Bestimmungsarbeit sein kann. Wer sich gleichsam im Kriechgang der stupenden Vielfalt von Flora und Fauna vergewissert und zugleich den Kopf frei behält für Kultur, Gesellschaft und Gemeinschaft, der ist dem Geist Humboldts ganz nah.

© Thomas Kastura



Die Rezension wurde am 29.1.2005 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.

Oliver Sacks: Die feine New Yorker Farngesellschaft. Ein Ausflug nach Mexiko.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. München: Frederking & Thaler 2004. 172 Seiten. 18 €


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