Die
New Yorker Farngesellschaft hat im 19. Jahrhundert ihre Wurzeln. Es
ist eine Vereinigung von Amateurforschern, deren höchstes Glück
darin besteht, Farne zu klassifizieren, immer in der Hoffnung, ein bislang
unbekanntes Gewächs zu entdecken. Auf einer Exkursion nach Oaxaca
in Mexiko stehen die Chancen dafür besonders gut. Alexander von
Humboldt hat das vegetationsreiche Gebiet schon im Jahre 1803 besucht,
und Oliver Sacks begibt sich in vielerlei Hinsicht auf seine Spuren.
Farne sind lehrreich. Ob Adlerfarn, Streifenfarn oder
Frauenhaarfarn – diese uralten Pflanzen haben mit geringfügigen
Veränderungen 350 Millionen Jahre Evolution überdauert und
wecken ein Bewusstsein für die prähistorische Welt. Sacks
versteht es, die zahlreichen Arten auf immer neue, enthusiastische Art
zu beschreiben. Doch in Oaxaca sind auch die Überreste der Maya-Kultur
und die Auswirkungen des Kolonialismus zu besichtigen, außerdem
Kakaofabriken und Mescaldestillerien, Töpfermärkte und ein
Teppichweberdorf, wo die leuchtend rote Koschinellenfarbe, einst kostbarer
als Gold, auf natürlichem Wege hergestellt wird. Dafür werden
die Larven von Schildläusen, die man nur auf bestimmten Kakteen
in Mexiko und Mittelamerika findet, zu einem feinen Pulver zerrieben.
"Dieses Pulver besteht zu etwa zehn Prozent aus Karminsäure.
[...] Nach der Reise forschte ich nach und stellte fest, dass die Herstellung
synthetischer Karminsäure tatsächlich recht unkompliziert
ist. Allerdings würde das Tausende Mexikaner arbeitslos machen
und ein traditionelles, seit undenklichen Zeiten in der mexikanischen
Kultur verankertes Handwerk auslöschen."
Die Koschinellenfarbe ist nicht das Einzige, was die
Konquistadoren begehrlich fanden. Neben dem geraubten Silber und Gold
brachten sie Tabak, Kartoffeln, Tomaten, Schokolade, Kürbisse,
Chilis, Pfeffer, Mais, Gummi, Kaugummi und nicht zuletzt das Ballspiel
nach Europa. Für all dies hat Oliver Sacks einen Blick. Ihm wird
auf seiner Reise klar, dass auch in der Neuen Welt eine Wiege der Zivilisation
stand. Damit befindet er sich erneut in der Gesellschaft Alexander von
Humboldts. Natürlich sind die Entdeckungen des großen Naturforschers
nicht mit den weitaus bescheideneren Beobachtungen seines New Yorker
Bewunderers zu vergleichen. Die wissenschaftlichen und literarischen
Verdienste von Oliver Sacks liegen woanders. In mehreren Büchern
wandte er sich Menschen zu, die aufgrund neuraler Schäden am Verlust
eines essentiellen Aspekts der Wahrnehmung leiden. Ob Gehörlosigkeit,
Alzheimer, Schlafkrankheit oder Farbenblindheit – Sacks brachte
uns Lebenswelten nahe, die den Gesunden oftmals wie ein trostloses Schattenreich
erscheinen. Die selbe menschliche Wärme, die schon seine Fallgeschichten
aus der Neurologie
auszeichnet, durchzieht nun sein Mexikojournal.
Herausragende Erkenntnisse enthält es allerdings nicht. Vielmehr
besteht sein Vorzug darin, Sympathien für die Figur des Hobbyforschers
zu wecken. So ist die Arbeit von Amateuren etwa in der Astronomie, Mineralogie
und Ornithologie, bei der Suche nach Fossilien, seltenen Tieren und
seltenen Pflanzen von großer Bedeutung.
"All diese Forschungsgebiete erfordern nicht so sehr eine akademische
Ausbildung, sondern vor allem den geschärften Blick, der aus einer
angeborenen Grundhaltung, einer Liebe zur Natur sowie Erfahrung und
Leidenschaft entsteht. Dies ist es, was Menschen, die Amateure im besten
Sinne sind, auszeichnet: Liebe, Leidenschaft für ihr Wissensgebiet
und außerdem oft der Erfahrungsschatz eines Lebens voller präziser,
in der Praxis gemachter Beobachtungen."
Als Reisender wie du und ich hebt sich Sacks wohltuend
von all den Abenteurern und Extremisten ab, die über den Rand ihres
Egos meist nicht hinausschauen. Unumwunden outet er sich als Tourist,
seine Betrachtungen erstrecken sich auf die Hochkultur wie auf den Alltag.
Vor allem aber regen seine Streifzüge den Leser an, es der skurrilen
Farngesellschaft gleichzutun und auf dem Bauch liegend, die Lupe in
der Hand, Feldforschung zu betreiben. Das Buch vermittelt eine Ahnung
davon, wie erfüllend schlichte botanische Bestimmungsarbeit sein
kann. Wer sich gleichsam im Kriechgang der stupenden Vielfalt von Flora
und Fauna vergewissert und zugleich den Kopf frei behält für
Kultur, Gesellschaft und Gemeinschaft, der ist dem Geist Humboldts ganz
nah.
©
Thomas Kastura
Die Rezension wurde am 29.1.2005 vom Bayerischen Rundfunk gesendet.
Oliver Sacks: Die feine New Yorker Farngesellschaft.
Ein Ausflug nach Mexiko.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. München: Frederking
& Thaler 2004. 172 Seiten. 18 €
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