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Haruki Murakami: Nach dem Beben

Das Erdbeben in Kobe 1995, gefolgt von dem Giftgasanschlag der Aum-Sekte in der Tokyoter U-Bahn, war für die Japaner ein Schock – und für Starautor Haruki Murakami Anlass, aus den USA in die Heimat zurückzukehren und zwei Bücher zu schreiben. In "Untergrundkrieg" (2002) setzte er sich mit dem unterirdischen Terrorakt auseinander. In dem Erzählband "Nach dem Beben" versucht er nun, das sog. Hanshin-Beben von Kobe literarisch zu verarbeiten.

Ein Erdbeben ist einer der letzten archaischen Einbrüche in unsere zivile Wirklichkeit. Es zieht uns buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. "Die angeblich so stabile Erde, die Gesteinsmassen, werden schwammig, wenn nicht gar flüssig."

Murakamis Figuren bekommen es meist nur aus der Ferne mit wie die Frau eines Hi-Fi-Verkäufers, die ihren Mann verlässt, nachdem sie die Fernsehbilder der Naturkatastrophe fünf Tage lang sprachlos verfolgt hat. Oder die vierjährige Sara, die in ihren Träumen von einem "Erdbebenmann" bedroht wird, der sie in einen viel zu kleinen Kasten stopfen will.

Murakami hat sich mit surrealistischen Romanen einen Namen gemacht, schaurig-schlüpfrigen Geschichten über das postmoderne Japan. Sein Liebesroman "Naokos Lächeln" brachte das Literarische Quartett einst zur Implosion, nicht so sehr wegen der Sexszenen, sondern aufgrund des schnörkellosen, vielfach als trivial gebrandmarkten Stils. Seine Kurzprosa hat ihn allerdings schon früh als Erzähler ausgewiesen, dem ruhigere, melancholische Töne nicht fremd sind.
So auch hier: Das bewegte Großstadtleben, Epizentrum der Katastrophe, scheint bewusst ausgespart. Murakami nähert sich seinem Thema von der Provinz oder dem Ausland. Dennoch geraten die Figuren in Situationen, die alles umwälzen, was sie bis dahin erlebt haben. Das Erdbeben erweist sich ganz im Sinne von Kleist als unerhörtes Ereignis, das zwar nicht die Gesellschaft, dafür aber einzelne Lebensgeschichten in Frage stellt. Es markiert einen kathartischen Wendepunkt.

Doch Murakami folgt diesem klassischen Schema nur andeutungsweise. Er spart viel aus, verrätselt, reißt Entwicklungen an. Manchmal wirkt der Beben-Bezug nur wie eine manieristische Klammer. Häufig aber gelingt die Balance zwischen Realität und Vision, zwischen lebensweiser Bewältigung und fortgesetztem Trauma.

Diesen Schwebezustand stellt nicht zuletzt Murakamis Sprache her. Sie bildet einen lakonischen Gegensatz zu den tragischen Vorfällen in Kobe, ihre Abgeklärtheit hält das persönliche Drama der Figuren auf Distanz. Doch es ist ein trügerischer Boden, auf dem die Menschen da wandeln, jederzeit bereit, sich zu verflüssigen und alles zu verschlingen wie der Wurm, der Tokyo vernichten will und nur von einem Riesenfrosch und dem Bankangestellten Katagiri aufgehalten werden kann (in der Fabel "Frosch rettet Tokyo").

Die verborgene Botschaft dieser sechs Erzählungen ist schlicht: Durch das Beben kommen die Menschen zueinander – und zu sich selbst. Es verleiht ihnen den Impuls, das Kästchen, in dem sie ihr Inneres aufbewahren, wegzugeben ("Ufo in Kushiro"). Schlafwandlerisch tasten sie sich auf neue Wege vor. Ob es ihnen gelingt, sie zu beschreiten, bleibt offen.

© Thomas Kastura




Die Rezension erschien unter dem Titel "Verschüttete Nächstenliebe" im Rheinischen Merkur vom 4.12.2003

Haruki Murakami: Nach dem Beben. Erzählungen.
Aus dem Japan. von Ursula Gräfe.
Köln: Dumont 2003. 186 Seiten. 19,90 €


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