Regelmäßig erschallt hier zu Lande der Ruf nach der literarischen Avantgarde, nach dem lauten Experiment, dem radikalen Umbruch, dem großen Buhei. Warum eigentlich? Reicht es nicht aus, einfach gute Geschichten zu schreiben? Die gibt es ohnehin nicht wie Sand am Meer, und sie entstehen selten auf Zuruf. Innovation kann auch ohne großen Gestus erfolgen.
Zum Beispiel im Debüt der 1968 geborenen Irin Claire Keegan. Ihre 16 Erzählungen spielen in Irland, England und Amerikas tiefem Süden. Sie sind in einem ländlichen Milieu angesiedelt, über das man im metropolenfixierten Deutschland gerne die Nase rümpft. Dabei bieten solche Schauplätze seit jeher Gelegenheit, den Blick auf die existenziellen menschlichen Konflikte zu richten, sie zu verdichten und zuzuspitzen.Auf dem platten Land gibt es jede Menge lohnender Stoffe. Claire Keegan macht sich die Mühe, sie zu erschließen. Dabei tritt das Drama des Alltags hervor: Rivalitäten, Abhängigkeiten, Ausbruchversuche und gescheiterte Liebesaffären. Nicht selten erwachsen daraus Verbrechen – oder der Vorsatz dazu.
So unterschiedlich die Figuren und Perspektiven auch sind, so klar und kühl ist Keegans Ton. Zwischen den Zeilen entfalten sich spröde Biographien, in denen Träume unerfüllt und Leben ungelebt bleiben. Oft bedarf es nur eines Schritts zu Gewalt und Obsession, Missbrauch und Betrug. Die Geschichten steuern meist auf fatale Abbruchkanten zu, die letzte Krise bleibt ausgespart. Doch so genau lässt sich nicht sagen, wo die Normalität endet und der Abgrund beginnt.
Die Autorin hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert
und lebt in der irischen Grafschaft Monaghan. Sie zeigt uns eine verschattete,
zeitenthobene Welt, in der die Menschen lange darauf lauschen, wie der
Regen auf Rhabarberblätter tropft, bevor sie ihr Schicksal schließlich
in die Hand nehmen. "Antarctica" heißt der Erzählband
im Original. Die Titelgeschichte handelt von einer glücklich verheirateten
Frau. Sie fragt sich jeden Tag, wie es wohl wäre, mit einem anderen
Mann zu schlafen. Daraufhin überschreitet sie die dünne Linie
zwischen Lust und Gefahr und findet sich in einer aussichtslosen Lage
wieder, die dem ewigen Eis am Südpol gleicht.
Doch Keegan setzt solche Symbolik sparsam ein. Ihre
Bildersprache deckt sich mit der genauen Beobachtung ihrer Figuren,
fügt hier und da Schattierungen hinzu, wird aber nie zum Selbstzweck.
Am eindrücklichsten ist die abgeklärte, gestochene Erzählweise.
Das wirkt so selbstverständlich – und ist in Wahrheit ein
Produkt fortgesetzter Reduktion.
Diese lebenskluge Prosa hat es schwer im Wettbewerb
mit gekünstelten Manierismen, welche gemeinhin als Avantgarde gelten.
Glücklicherweise ist der angloamerikanische Sprachraum weitgehend
resistent gegen Stildiskussionen und bringt immer wieder Erzähler
vom Schlage Claire Keegans hervor. Erzähler, denen es keine Ruhe
lässt, bis sie herausgefunden haben, wo das Wasser am tiefsten
ist.
©
Thomas Kastura
Die
Rezension erschien unter dem Titel "Regen auf dem Rhabarber"
im Rheinischen Merkur vom 8.7.2004
Claire Keegan: Wo das Wasser am tiefsten ist.
Erzählungen.
Aus dem Engl. von Inge Leipold und Hans-Christian Oeser.
Göttingen: Steidl Verlag 2004. 237 Seiten. 16 €
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