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Irvine Welsh: Klebstoff

Es ist ruhig geworden um Irvine Welsh, den Trainspotting -Mann. Sein fulminantes Debüt sowie die anschließenden Ecstasy -Erzählungen (1997) waren in den 90-ern Pflichtlektüre. Man kam nicht vorbei an dieser antibürgerlichen Totalverweigerung und las mit Schaudern, welch groteske Momente schwerer Heroinabhängigkeit innewohnen können. Es folgten weitere Storys sowie der Roman Drecksau (1999), an dem nur noch der Titel Skandal war. Dem durchgeknallten Schotten, dessen schwarzhumorige Schilderung von Drogenexzessen sogar Jugendschützer auf den Plan rief, schien die Puste auszugehen.

Drogen spielen in "Klebstoff" zwar auch eine Rolle, doch Welsh besinnt sich mehr auf seine Figuren - und tut gut daran. Schon in "Trainspotting" erzählt er aus den unterschiedlichen Perspektiven einer Edinburgher Vorstadtclique.

Dadurch entsteht ein Bild mit vielen Brechungen und Schattierungen. Sozialer Touch stellt sich ein, hinter jedem Gag lauert die Tragik des notorischen Taugenichts. Diesem Muster folgt Welsh jetzt konsequenter. Er begleitet vier Freunde über fast vier Jahrzehnte, von ihrer Kindheit in den 70-er Jahren bis in die Gegenwart.

Terry, Carl, Billy und Gally stammen aus der selben Sozialsiedlung in Edinburgh. Sie durchleben eine kurze Kindheit, schlagen sich durch Pubertätsnöte (u.a. als Fußballhooligans) und werden doch nie erwachsen. In einem Milieu, in dem Arbeitertum, Klein- und Großkriminalität fließend ineinander übergehen, kommen sie auf unterschiedliche Weise zurecht. Zwei machen Karriere als Boxer bzw. als DJ. Einer kommt nicht vom Fleck. Und ein weiterer bleibt im Struggle for Life auf der Strecke. So etwas wie Selbstfindung gelingt keinem.

Dass die Vier wie "Klebstoff" zusammenhalten, kann man nicht gerade sagen. Vielmehr wirkt das Ideal der Freundschaft, um das es in diesem Buch in erster Linie geht, wie ein unerreichbarer Vorsatz. Jeder ist sich mit seinen Süchten selber im Weg. Bei Carl, dem populären DJ, sind es Ecstasy und Jugendkult, bei Billy, dem Boxer, Körper und Karriere. Terry, der Gelegenheitsdieb, ist ein sexbesessener Aufreißer. Und der kleine Gally, der verzweifelt um Anerkennung ringt, wandert aus übertriebener Loyalität (für einen brutalen Schläger) in den Knast und gerät auf die schiefe Bahn. Als er sich umbringt, beginnen seine Freunde, die sich auseinander gelebt haben, über ihr Verhältnis nachzudenken. Sie begreifen, was eine wertvolle Freundschaft ausmacht: bedingungslose Akzeptanz.

Das Atemholen vor "Klebstoff" hat sich gelohnt. Welsh gibt sich weniger rebellisch als früher, obwohl seine derbe Umgangssprache und provokanten Gewaltszenen nach wie vor gewöhnungsbedürftig sind. Allerdings nimmt sich der Roman mehr Zeit. Auf über 600 Seiten entsteht ein Sittenbild vom Rand der Gesellschaft, an dem sich ein frecher Spruch oft als einziger Schutz vor der allgegenwärtigen Resignation erweist. Im Grunde ist Welsh ein verhinderter Moralist. Stets scheint die Frage durch: Wie lässt sich in einer überdrehten, jedem selbstzerstörerischen Trend nachhechelnden Eventkultur noch ein Hauch Kontinuität bewahren, wenn die angestammten Vorstellungen von Familie, Beruf und sozialem Leben aus den Fugen geraten sind?

Einige Figuren aus "Trainspotting" haben in "Klebstoff" Gastauftritte, nicht nur aus Jux, sondern mit Methode: In Welshs Erstling zerbricht die Freundschaft von vier jungen Männern an ihrem Egoismus. Dagegen versuchen sie in "Klebstoff", das, was davon übrig geblieben ist, zu kitten. Das liest sich ebenso witzig, spannend, schockierend. Aber weitaus bewegender. Welsh is back.

© Thomas Kastura




Die Rezension erschien unter dem Titel
"Die Rückkehr eines Totalverweigerers" im Fränkischen Tag vom 11.10.2002

Irvine Welsh: Klebstoff.
Aus dem Engl. von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002. 624 Seiten. 12,90 €

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