Dadurch entsteht ein Bild mit vielen Brechungen und Schattierungen. Sozialer Touch stellt sich ein, hinter jedem Gag lauert die Tragik des notorischen Taugenichts. Diesem Muster folgt Welsh jetzt konsequenter. Er begleitet vier Freunde über fast vier Jahrzehnte, von ihrer Kindheit in den 70-er Jahren bis in die Gegenwart.
Terry,
Carl, Billy und Gally stammen aus der selben Sozialsiedlung in Edinburgh.
Sie durchleben eine kurze Kindheit, schlagen sich durch Pubertätsnöte
(u.a. als Fußballhooligans) und werden doch nie erwachsen. In
einem Milieu, in dem Arbeitertum, Klein- und Großkriminalität
fließend ineinander übergehen, kommen sie auf unterschiedliche
Weise zurecht. Zwei machen Karriere als Boxer bzw. als DJ. Einer kommt
nicht vom Fleck. Und ein weiterer bleibt im Struggle for Life auf der
Strecke. So etwas wie Selbstfindung gelingt keinem.
Dass die Vier wie "Klebstoff" zusammenhalten, kann
man nicht gerade sagen. Vielmehr wirkt das Ideal der Freundschaft, um
das es in diesem Buch in erster Linie geht, wie ein unerreichbarer Vorsatz.
Jeder ist sich mit seinen Süchten selber im Weg. Bei Carl, dem
populären DJ, sind es Ecstasy und Jugendkult, bei Billy, dem Boxer,
Körper und Karriere. Terry, der Gelegenheitsdieb, ist ein sexbesessener
Aufreißer. Und der kleine Gally, der verzweifelt um Anerkennung
ringt, wandert aus übertriebener Loyalität (für einen
brutalen Schläger) in den Knast und gerät auf die schiefe
Bahn. Als er sich umbringt, beginnen seine Freunde, die sich auseinander
gelebt haben, über ihr Verhältnis nachzudenken. Sie begreifen,
was eine wertvolle Freundschaft ausmacht: bedingungslose Akzeptanz.
Das Atemholen vor "Klebstoff" hat sich gelohnt. Welsh
gibt sich weniger rebellisch als früher, obwohl seine derbe Umgangssprache
und provokanten Gewaltszenen nach wie vor gewöhnungsbedürftig
sind. Allerdings nimmt sich der Roman mehr Zeit. Auf über 600 Seiten
entsteht ein Sittenbild vom Rand der Gesellschaft, an dem sich ein frecher
Spruch oft als einziger Schutz vor der allgegenwärtigen Resignation
erweist. Im Grunde ist Welsh ein verhinderter Moralist. Stets scheint
die Frage durch: Wie lässt sich in einer überdrehten, jedem
selbstzerstörerischen Trend nachhechelnden Eventkultur noch ein
Hauch Kontinuität bewahren, wenn die angestammten Vorstellungen
von Familie, Beruf und sozialem Leben aus den Fugen geraten sind?
Einige Figuren aus "Trainspotting" haben in "Klebstoff" Gastauftritte, nicht nur aus Jux, sondern mit Methode: In Welshs Erstling zerbricht die Freundschaft von vier jungen Männern an ihrem Egoismus. Dagegen versuchen sie in "Klebstoff", das, was davon übrig geblieben ist, zu kitten. Das liest sich ebenso witzig, spannend, schockierend. Aber weitaus bewegender. Welsh is back.
© Thomas Kastura
Die Rezension erschien unter dem Titel
"Die Rückkehr eines Totalverweigerers" im Fränkischen
Tag vom 11.10.2002
Irvine Welsh: Klebstoff.
Aus dem Engl. von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002. 624 Seiten. 12,90 €
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