Ischa
ist ein impulsiver Womanizer, der oft zu Huren geht. Connie ist zwar
auch kein Kind von Traurigkeit, aber ohne Liebe läuft bei ihr nichts.
Ischa hat sich mit seinen jüdischen Eltern überworfen und
arbeitet nur widerwillig seine Vergangenheit auf, die bis ins KZ von
Bergen-Belsen zurückreicht. Connie hält viel auf ihr katholisches
Elternhaus, in dem sie Geborgenheit, menschliche Nähe und Vertrauen
erfahren hat. Ischa ist ein Vollblut-Reporter, der für seine Kolumne
"Der Dicke Mann" die Wirklichkeit gerne zur Fiktion verbiegt.
Connie versucht in ihren Büchern, was sie an Harold Brodkey so
bewundert: "eine gnadenlose, brillante, erbarmungslose Selbsterforschung".
Gegen Unechtheit, vor allem die eigene, hegt sie eine tiefe Abneigung.
Diese ungleichen Intellektuellen finden spontan zueinander. In
einer Mischung aus autobiografischem Journal und philosophischem Roman
erzählt Palmen eine Geschichte, die einem von Anfang an unter die
Haut geht. Darin wechseln rührende Liebesschwüre mit Dialogen
über Gott und die Welt ab, verrückte Albernheiten und Neckereien
mit geistreichen Anamnesen. Connie und Ischa geben ihre Unabhängigkeit
schrittweise auf, denn "ohne Abhängigkeit gibt es kein Glück."
Als Leser kommt man sich dabei vor wie in einer menage à
trois, so nah lässt uns Palmen an ihre Figuren herantreten. Sex
bleibt dabei ausgespart: eine Einschränkung, die den privaten Charakter
des Buches sogar verstärkt. Um das Wesen dieser Liebe zu verstehen,
reichen die Gespräche zwischen Connie und Ischa völlig aus.
Palmens Programm ist so simpel, wie Literatur manchmal sein kann:
Sie erzählt aus ihrem eigenen Leben. Darin spielen Fiktionen eine
wichtige Rolle. Die Beziehung mit Ischa beginnt, als Connies Erstling
(Die
Gesetze
, dt. 1993) erscheint. Überlegungen zu ihrem zweiten
Roman (Die
Freundschaft
, dt. 1996) gehen in die Geschichte ebenso ein, wie
die "Dicker Mann"-Kolumnen von Ischa und Auszüge aus
einem Buch, das dieser über seinen Vater schreibt.
Viele Kunst-Stücke haben wir gelesen über die unscharfen
Trennlinien von Fiktion und Wirklichkeit: Samuel Becketts Malone
stirbt
und Paul Austers New
York-Trilogie
, Wolfgang Hildesheimers Marbot
-Biografie
und Wolfgang Hilbigs Ich
-Roman.
Im Gegensatz zu diesen metaphernbeladenen Versuchsanordnungen zeigt
Connie Palmen ganz lebensnah, wie unser Leben von Fiktionen durchdrungen
ist: wenn wir uns verstellen, uns etwas vormachen oder andere Menschen
parodieren; wenn wir lesen, Filme anschauen oder uns gegenseitig Geschichten
erzählen; oder wenn wir an Orte gelangen, wo Fiktionen entstehen.
Connie und Ischa reisen dafür mehrmals in den USA. Dort
besichtigten sie Las Vegas, das Death Valley und die Universal Studios,
die Straße der Ölsardinen, die Ponderosa-Ranch aus der Fernsehserie
"Bonanza" und Elvis Presleys Graceland. Jeder Ort löst
Assoziationen aus, die ein Stück Vergangenheit enthüllen und
die Gegenwart begreifbarer machen. Die Liebenden rücken dadurch
noch enger zusammen. Fiktionen bringen sie dazu, das Leben zu lernen.
Fiktion, so Connie Palmen, sei nicht der Wirklichkeit und der
Wahrheit entgegengesetzt. "Gott, die Liebe, ja, sogar die Wahrheit
selbst sind effektive Fiktionen, die unser Leben, unser Glück,
unsere Beziehungen und Erfahrungen, also unsere Wirklichkeit, Minute
für Minute beeinflussen." Es komme es darauf an, ob und in
welcher Weise man Fiktion in seinem Leben zulässt.
Die tragische Wendung der Geschichte ist keine Fiktion. Ischa,
der zuvor schon seine Eltern beerdigt hat, stirbt an einer Herzattacke.
Das hat sich bereits angedeutet. Nach der heiter gestimmten ersten Hälfte
des Buches macht sich der Tod zunehmend bemerkbar. Er trifft Kollegen,
Freunde und Verwandte und ruft Mitleid, Trauer, aber auch Gefühle
der Befreiung hervor.
Ischas Tod lässt sich nicht so einfach bilanzieren. Er stürzt
Connie in eine abgrundtiefe Verzweiflung, von der sie fast vernichtet
wird. Das ist so erschütternd, dass man die letzten 30 Seiten ("In
Memoriam") gar nicht zu Ende lesen will. Nolens volens tut man
es doch und erfährt, dass Connie ihr "Herz von kleinauf geknetet"
hat, um den Kummer irgendwie auszuhalten. Indem sie Ischa schreibend
neu erschafft, bekommt sie seinen Tod in den Griff.
Dieses Buch geht nicht spurlos an einem vorüber. Connie
Palmen erzählt so welthaltig und lebensvoll über die Liebe
und den Tod, so aufrichtig und unprätentiös, dass man ihre
Geschichte zurecht zur großen Bekenntnisdichtung zählen kann.
Ihre zahlreichen Einsichten über Dichtung und Wahrheit lassen sich
in der bittersüßen carpe-diem-Erkenntnis zusammenfassen:
Greif zu, solange es geht. Denn irgendwann ist ein Leben nurmehr Fiktion
und wird zu dem, was wir daraus machen.
© Thomas Kastura
Die Rezension erschien unter dem Titel "Das Herz kneten" im Rheinischen Merkur vom 14.10.1999
Connie
Palmen: I. M. Ischa Meijer - In Margine, In Memoriam.
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Zürich: Diogenes 1999. 400 Seiten; als Tb: 11,90 €
Kaufen
Sie dieses Buch hier
Winterlicht aus »In Kürze verstorben«
Ohne Gewicht aus »An einem andern Ort«
Schleuse 100 aus der Anthologie »Tatort Bayern«
Alles Glück aus der Anthologie »Sonnige Zeiten«
Jan Mayen aus der Anthologie »Eiszeit«
Freigang aus der Anthologie »Spuren im Schnee«