Es
klappt nicht ganz so, wie es soll: Susan wird zwar ein TV-Serienstar
und spielt in ein paar Filmchen mit, will aber von ihrer Mutter nichts
mehr wissen. Als ihre Popularität rapide nachlässt, überlebt
sie als Einzige einen Flugzeugabsturz. Sie taucht für ein Jahr
unter und fängt an, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
John ist knapp zehn Jahre älter, aber nicht weiser. Der
B-Movie-Produzent hat ein Leben auf der Überholspur geführt.
Luxus, Sex, Drogen - alles bis zum Exzess. Als eine simple Grippe sein
Immunsystem lahm legt, erscheint ihm Susan in einer Vision, als eine
Art TV-Engel, der John zur Einkehr mahnt. Daraufhin zieht er in Jack
Kerouac-Manier los und führt ein Jahr lang ein Leben auf der Straße,
unter "Nobodys" und anderen Randexistenzen, die der Sunshine-State
Kalifornien genauso hervorbringt wie die großen Stars. Danach
ist er zwar etwas geläutert, aber pleite und gehörig durch
den Wind. Per Zufall begegnet er Susan, der Frau aus seiner Vision.
Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Nach einer verwickelten
recherche finden sie zueinander.
So viel Handlung ist man gar nicht gewohnt von Douglas Coupland,
der seine "Miss Wyoming"-Story mit zahlreichen Rückblenden
auf- und ineinander faltet wie eine Origamifigur. Der gebürtige
Kanadier ist einer der besten nordamerikanischen Schriftsteller der
Neunziger Jahre. Seine Romane sind Soziogramme im besten Sinne des Wortes.
Ob es um die fatalistischen Slacker der Generation
X
(1994) geht, um emotionslose Yuppies auf unserem Shampoo
Planet
(1994) oder die Mikrosklaven
(1996) der New Economy - Coupland stellt die Gesellschaft stets mit
messerscharfem Blick und melancholischem Witz dar, dokumentarisch fast,
aber äußerst prägnant und amüsant. Dabei ist er
der Alten Welt immer eine Nasenlänge voraus. In Deutschland werden
seine Romane immer erst mit ein paar Jahren Verzögerung verstanden
- so lange es eben braucht, bis neue gesellschaftliche Trends hier ankommen.
Aber er hat ein Problem: Seine ersten Bücher enthalten viel Räsonnement
und wenig Handlung. Nach hundert Seiten denkt man sich: Gut, das hab
ich jetzt kapiert. Wozu noch weiterlesen?
Der Roman Girlfriend
in a Coma
(1999) deutete bereits einen Wandel an, den Coupland jetzt
vollständig vollzogen hat: Sein metaphernreicher Realismus ist
weitgehend der gleiche geblieben, doch plötzlich erzählt er
uns auch zusammenhängende Geschichten, nicht nur kleine Blitzlicht-Biografien,
sondern eine ausgefeilte Story mit komplexen Figuren. Dabei kommen seine
soziologischen Beobachtungen nicht zu kurz, etwa wenn er Einblick in
die absurde Subindustrie der Schönheitswettbewerbe gewährt.
Oder wenn er Twentysomethings porträtiert, die über ein derart
horrendes Spezialwissen verfügen, dass sie für schlichte Freuden
des Lebens unempfänglich geworden sind.
So weit, so gut, aber worum geht es eigentlich in "Miss
Wyoming"? Den jungen Leuten, so Coupland, werde heute erzählt,
dass sie vier oder fünf verschiedene Karrieren haben werden. "Aber
was ihnen nicht gesagt wird, ist, dass sie dabei vier oder fünf
verschiedene Personen sein werden." Der Drang, sich neu zu erfinden
oder ganz von vorn anzufangen, ist zu einem Diktat geworden, sei es
auf dem Arbeitsmarkt oder im gesellschaftlichen Leben. Die Frage ist
nur: Welche der vielen Rollen, in die unser Ich zerfällt, macht
uns auch glücklich?
Tatsächlich müssen wir Angst haben, dass es uns nicht
so geht wie den Menschen, "die um den Zeitpunkt, zu dem sie sich
ihr erstes teures Möbelstück kaufen, die Fähigkeit verlieren,
Freunde zu finden"; oder jenen, die abends zwei weiße Pillen
nehmen, um besser schlafen zu können, morgens zwei orangefarbene
Pillen gegen den Hunger und sich nach dem Aufwachen nicht mehr an ihre
Träume erinnern können; oder, um noch eines von Couplands
genialen Bildern zu bemühen: Man fühlt sich verseucht, "als
zirkulierten im Blut mikroskopisch kleine Einsamkeitsviren, die wie
winzige Angelhaken nur darauf warteten, sich in jemanden zu bohren,
der dumm genug war, sich mit ihm einzulassen."
Im Grunde ist es das alte Thema der Moderne: dass ein geschlossener
Subjekt-Entwurf nicht mehr möglich sei. Doch für Coupland
ist das Konzept freier Individualität keine Chimäre, die sich
irgendwann im Zuge der industriellen und digitalen Revolution davongestohlen
hat, sondern eine nach wie vor erstrebenswerte Sozialutopie. Familie,
Freunde, Liebe - dafür geben seine Figuren einiges auf, zum Beispiel
Geld und Ruhm, Einfluss und Beliebtheit. Und da sie alles andere als
perfekt sind, tun sie sich verdammt schwer damit.
In seinen früheren Büchern klang das immer nur an.
Da jagte ein Gag den anderen, Coupland überbot sich in der Darstellung
einer plastikhaften Zukunftswelt, wie sie an der amerikanischen Westküste
entstanden ist. Jetzt bildet das trashig-trügerische Tinseltown
(für Hollywood) nur den Hintergrund für einen bewegenden Entwicklungsroman.
Coup hat sogar, ganz altmodisch, eine Botschaft: Wenn Sie sich das nächste
Mal neu erfinden, "sich ständig in neue Feuer stürzen,
in dem Verlangen zu brennen, dem Verlangen, sich wieder aus den Kohlen
zu erheben, jedes Mal neuer und wunderbarer, immer durstig, immer hungrig",
dann sollten Sie es gründlich machen, mit allen Konsequenzen. Am
Ende steht - so etwas wie Glück.
Die Rezension
erschien unter dem Titel "Barbies Albtraum" im Rheinischen
Merkur
vom 13.7.2001
Douglas Coupland: Miss Wyoming. Roman.
Aus d. Amerikan. von Tina Hohl.
Hamburg: Hoffmann und Campe 2001. 336 Seiten. 22,- €
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