"Trag
mich davon, Waggon! entführe mich, Fregatte! / fern! Fern! der
Schmutz hier ist aus unsern Tränen!" So dichtete Baudelaire
beim Anblick auslaufender Schiffe – und Alain de Botton kommt
auf ähnliche Gedanken, als er bei Heathrow startende und landende
Flugzeuge beobachtet. Ein Jumbo wirkt auf ihn wie "ein riesiges,
ungeheuer vielfältiges Tier, das, seinem Leibesumfang und den Turbulenzen
in den niedrigeren Schichten der Atmosphäre trotzend, gelassen
durch das Firmament steuert."
Ausgehend
von den primären Erfahrungen der Abreise, Passage und Ankunft entwickelt
de Botton eine kleine Phänomenologie des Reisens. Als Stichwortgeber
für seine Mischung aus Erzählung und Essay dient ihm eine
illustre Compagnie berühmter Maler, Dichter und Forscher. In einer
Autobahnraststätte fühlt er sich an die Bilder von Edward
Hopper erinnert.
Den Lake District durchstreift er auf den lyrischen Spuren von William Wordsworth. Und mit Alexander vom Humboldts Bericht von Südamerika im Kopf besichtigt er – gleichsam ex negativo – Madrid. Dort gibt es zwar nicht 16000 neue Pflanzenarten zu entdecken, aber für eine "Sammlung von kleinen, das Leben bereichernden Gedanken" reicht es allemal.
Solch eine bildungsbeflissene Tour ist beileibe nichts Neues. Auch de Bottons Plädoyer für inspiriertes Verweilen am Wegesrand klingt vertraut (man denke nur an die Schriften von W. G. Sebald). Im Stile eines romantischen Flaneurs schwärmt er von den Wonnen des Erhabenen und zeigt sich zugleich als Aufklärer, wenn er sich eudaimonia, die Entfaltung der Persönlichkeit, zum Vorsatz jeder Reise nimmt. Dagegen schlägt er den "Traurigen Tropen" der Moderne, die gänzlich ausgemessen scheinen, ein Schnippchen, indem er das öffentliche Interesse dem persönlichen Streben nach Glück unterordnet. Entdeckungen, so unspektakulär sie auch sein mögen, lassen sich überall machen – man müsse nur wissen wie.
Das ist denn auch die tröstliche Botschaft dieses geistreichen Parlandos. "Wir werden sein wie jemand, in dessen Umgebung ein bestimmtes Wort zwar schon bei vielen Gelegenheiten gefallen ist, der es aber erst bewusst hört, wenn er seine Bedeutung verstanden hat." Van Gogh ist so einer, der dem Reisenden eine Welt aufschließt, die er längst zu kennen glaubt. Dank seiner Bilder erlebt de Botton die Provence mit verändertem Blick. Überall sieht er plötzlich Komplementärfarben: lilafarbene Lavendel- und gelbe Weizenfelder, orangene Häuserdächer vor einem reinblauen Himmel, grüne Wiesen getüpfelt mit rotem Mohn.
De Botton, ein in der Schweiz geborener Londoner, weiß gefällig zu erzählen und zitieren. Manchmal klingt das etwas betulich, aber Umständlichkeit ist ja geradezu ein Signum für den flanierenden, stets reflektierenden Geist. Nach den Reisejournälchen der Popliteratur, die sich gern dumm stellen, tut es gut, wieder etwas Kluges zu lesen: einen Text, der seine Bildung unbefangen ausbreitet und dennoch nicht belehren will. De Botton gelingt genau das, worauf ihn die Meister hingelenkt haben: Er öffnet uns die Augen für die Schönheit des Unterwegs.
© Thomas Kastura
Die Rezension erschien unter dem Titel "Schönes
Verweilen am Wegesrand"
im der Literaturbeilage Zeit
vom Juni 2002.
Alain de Botton: Kunst des Reisens.
Aus dem Engl. von Silvia Morawetz.
Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2002. 288 Seiten. 18 €
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