Eines
Tages kommt ein Zauberer vorbei und nimmt einen mit auf ein großes
Abenteuer: ein Kindheitstraum und zugleich Ausgangspunkt vieler sagenhafter
Reisen. Es steht am Anfang der beiden erfolgreichsten Bücher von
J. R. R. Tolkien (1892-1973), dem Hobbit
und dem Herrn
der Ringe
. Darin verlockte der Oxford-Professor Millionen Leser
dazu, ihm nach "Mittelerde" zu folgen: an einen Ort, den er
nicht als imaginäre Gegenwelt verstand, sondern als Rekonstruktion
einer quasihistorischen Antike, als Landschaft der Erinnerung.
Dieses Phantasiereich entsprang Tolkiens Wunsch, eine Mythologie
für England zu erschaffen. Daraus entstand ein umfangreicher, akribisch
ausgestalteter Kosmos. Zu keltisch inspirierten Mythen trat eine Vielzahl
eigener Erfindungen hinzu, die schließlich den Rahmen abgaben
für ein volkstümliches Kinderbuch. "Der Hobbit"
(1937) war dann so erfolgreich, daß sich Tolkien sogleich an eine
Fortsetzung machte.
Sie
wuchs sich zu einem aufwendigen Epos aus, dem "Herrn der Ringe"
(1954/55), der seit den sechziger Jahren zum Kultbuch avancierte. Dabei
ist es bis in die Gegenwart geblieben. Derzeit ermitteln viele Zeitungen
und Verlage Bestenlisten der Weltliteratur. "Der Herr der Ringe"
steht immer dann ganz oben, wenn die breite Leserschaft ihre Stimmen
abgeben darf.
Das Publikum hatte Tolkien aber noch gar nicht im Sinn, als er
in den zwanziger Jahren Märchen für seine Kinder erfand. Damals
hatte der junge Gelehrte, dessen Spezialgebiet der Dialekt der westlichen
Midlands im Mittelenglischen war, zwar schon damit begonnen, seinen
"Mittelerde"-Kosmos mit Gedichten und fiktiven Legenden zu
möblieren. Das war aber eher ein abgehobener Spleen. Dagegen schlüpfte
er vor seinen Kindern in die Rolle des unterhaltsamen Erzählers.
Im Zuge der Tolkien-Begeisterung kamen einige dieser privaten
Geschichten zu posthumen Ehren (etwa "Herr Glück" oder
"Briefe vom Weihnachtsmann"). Das Märchen "Roverandom"
wurde von den Erben aber erst 1998 freigegeben. Es handelt von dem kleinen
Hund Rover, der zur Strafe für seine schlechten Manieren von dem
Zauberer Artaxerxes in einen winzigen Spielzeughund verwandelt wird.
Damit beginnt für ihn eine Reihe von Abenteuern, in deren Verlauf
er versucht, seine ursprüngliche Gestalt zurückzuerlangen.
Der Sandzauberer Psamathos schickt ihn auf dem Rücken einer Möwe
zum Mann im Mond, wo er dem Mond-Hund Rover begegnet. Zusammen mit ihm
erkundet Roverandom, wie der Held der Erzählung jetzt heißt,
eine phantastische Fabelwelt mit Riesenspinnen, Schattenfledermäusen
und einem Großen Weißen Drachen. Als Roverandom erfährt,
daß Artaxerxes eine Stelle als Meereszauberer angetreten hat,
bringt ihn ein Wal zum Schloß des Meerkönigs am Grund des
Ozeans. Auch hier geht es drunter und drüber, unter anderem versetzt
eine riesenhafte Seeschlange das Meer in Aufruhr. Roverandom gelangt
schließlich wieder an Land und wird von Artaxerxes zurückverwandelt.
Tolkien erzählte dieses Märchen zum ersten Mal im Jahre
1925, als er mit seiner Familie an der Küste von Yorkshire Urlaub
machte. Adressat war sein vierjähriger Sohn Michael, der einen
Miniaturhund aus Blei besaß und ihn am Strand verlor. Diese Begebenheit
ist in "Roverandom" eingewoben, was Michael über den
Verlust seines Spielzeugs hinwegtrösten sollte. Mit Erfolg: Die
Kinder waren von der Geschichte so begeistert, daß Tolkien sie
zwei Jahre später zu Papier brachte. Dazu fertigte er fünf
Illustrationen an, die der vorliegenden Ausgabe beigegeben sind.
So drollig sich "Roverandom" in der Inhaltsangabe auch
liest - solch ein Buch würde heutzutage normalerweise nicht mehr
publiziert werden. Dafür ist es zu hölzern erzählt und
zu wenig ausgearbeitet. Es enthält Leseranreden, die Tolkien auch
im späteren "Hobbit" onkelhaft vorkamen. Die Szenen wirken
manchmal improvisiert und verknappt, dann wieder weitschweifig und zusammenhanglos.
Tolkiens trockener Professorenhumor sorgt zwar für einige nette
Pointen, ist aber nicht jedermanns Sache. Grundsätzlich spricht
der nostalgische Charme des Buches eher Erwachsene an. Für Kinder
bedarf es meist der Erklärung.
Dies leisten das Nachwort und sechzehn Seiten Anmerkungen. Darin
sind Wortspiele, Lautmalereien und Alliterationen erklärt, die
in der deutschen Übersetzung natürlich an Reiz verlieren.
Interessant wird "Roverandom" erst im Kontext. Neben Bezügen
zu anderen Tolkien-Werken und zu seiner Biographie sind vor allem die
zahlreichen Entlehnungen, Anspielungen und Analogien aufschlußreich.
Sie machen deutlich, wie unbedarft Tolkien aus bestehenden Mythen, Märchen,
Sagen und Kinderbüchern schöpfte - und wie umfassend sein
Wissen darum war.
Doch "Roverandom" blieb im kompilatorischen Entwurf
stecken. Dagegen bekam der "Hobbit", den Tolkien 1930 oder
1931 anfing, ein ganz eigenständiges Gepräge. Es ist ein stilistisch
durchgeformtes Buch mit einem geschmeidigen Erzählfluß, ingeniösen
Einfällen und einer großartigen Geschichte - eines der besten
Kinderbücher, die je geschrieben wurden. Das zeichnete sich schon
1937 ab, als der "Hobbit" herauskam und der Verleger Nachschub
verlangte. Tolkien zeigte ihm "Roverandom" sowie zwei andere
"Märchen in wechselnden Stilen", wie Stanley Unwin urteilte.
Die kurzen Texte gefielen zwar, waren aber im Vergleich zum "Hobbit"
nur Lückenbüßer. Außerdem hatte Tolkien schon
mit dem ersten Kapitel des "Herrn der Ringe" begonnen. "Roverandom"
wurde nicht veröffentlicht und geriet in Vergessenheit.
Daß die Geschichte aber bis zu Tolkiens 25. Todestag liegenblieb,
ist verwunderlich. Bislang wurde aus dem Nachlaß so ziemlich alles
hervorgezerrt, worauf der Name "Tolkien" steht. Darunter befindet
sich vieles, was ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen
war - und was wenig von dem verschlungenen Weg verrät, den Tolkien
bis zu seinem Opus Magnum zurücklegte. Auf diesem Weg ist "Roverandom"
aber eine wichtige Etappe.
Darin klingen zwei wesentliche Faktoren an, auf denen Tolkiens
Werk beruht: Da ist zum einen sein Hang zur Erfindung von Sprachen,
der sich in den (Sprach-)Spielen des Märchens niederschlägt
und mit einer schöpferischen Auffassung von (Sprach-)Wissenschaft
verbunden war. Tolkien dachte sich insgesamt 15 fiktive Sprachen von
Elben, Zwergen, Menschen, Hobbits usw. aus. Indem er ihnen eine eigene
"Geschichte" gab, erweckte er sie zum Leben. Die Mythologie
diente im Grunde nur dazu, den archaischen Akt der Sprachschöpfung
zu grundieren. Am Anfang war das Wort, könnte man sagen.
Nachdem Mittelerde einmal ins Rollen gekommen war, ging Tolkien
im "Herrn der Ringe" noch einen Schritt weiter: Er versah
seine mythologischen Stoffe mit Motiven der Moderne und schuf - eher
unfreiwillig - einen Anti-Faust. Darin ist eine Fortschrittskritik enthalten,
die schon in "Roverandom" zu spüren ist, etwa in Form
von lärmendem Autoverkehr und Umweltverschmutzung. Im "Herrn
der Ringe" schlägt die Idealisierung des vorindustriellen
England dann in Untergangsstimmung um.
Genau das macht die Anziehungskraft der Tolkien-Bücher aus:
daß es bald vorbei sein könnte mit dem ungehemmten Fabulieren,
der Bastelei an Bausätzen einer besseren (oder schlechteren) Welt,
der abenteuerlichen Fahrt ins Unbekannte, welches gleichermaßen
lockt und droht. Diese Bedürfnisse werden immer nur Kindern zugestanden
und mit dem Vorwurf des Eskapismus belegt. Tolkien zufolge entsprechen
sie aber nicht der Flucht eines Deserteurs, sondern dem Entkommen eines
Gefangenen - eine Funktion von Literatur, die über das Abbilden
von Wirklichkeit hinausgeht und im eigentlich Sinn "modern"
ist. Der Zauberer wird noch viele Leser auf einen "Silberpfad"
führen, "der für jene, die ihn beschreiten können,
der Weg ist zu den Orten am Rand der Welt und noch weiter."
© Thomas Kastura
Die Rezension erschien unter dem Titel "Der
Hund im Mond"
im Rheinischen Merkur vom 14.5.1999
J. R. R. Tolkien: Roverandom.
Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christina Scull und Wayne
G. Hammond.
Mit fünf Illustrationen von J. R. R. Tolkien. Aus dem Engl. von
Hans J. Schütz.
Stuttgart: Klett-Cotta 1999. 143 Seiten. 13,50 €
Winterlicht aus »In Kürze verstorben«
Ohne Gewicht aus »An einem andern Ort«
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