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Hanne Ørstavik: Als ich gerade glücklich war

Manchmal möchte man die Last an Erfahrungen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, abstreifen und einen Zustand reiner Unschuld erleben. Das erste Mal lachen, weinen, ein Buch lesen – wie fühlt sich das an? Doch wer Hanne Ørstaviks Roman gelesen hat, lässt solche Gedanken schnell wieder fallen. Unschuld macht in hohem Maße verletzbar – zumindest Johanne, die Ich-Erzählerin des Romans "Als ich gerade glücklich war".

Wenn man die junge Psychologiestudentin an ihrem Platz in der Unibibliothek von Oslo träfe, würde man sie wahrscheinlich links liegen lassen. Sie lebt bei ihrer Mutter, ist tief religiös und kriegt vor lauter Hemmungen den Mund nicht auf. So jemand laboriert an einer schweren Depression, möchte man meinen, aber in Johanne sieht es zunächst gar nicht trübsinnig aus. Sie hat sich einem naiven Puritanismus verschrieben. Sparsamkeit, Disziplin und Hilfsbereitschaft lassen sie heiter durch ihren wohlgeordneten Alltag wandeln.

Das mag einem lächerlich vorkommen, aber Johanne ist alles andere als einfältig. Mit wachen Sinnen registriert sie, was sich in ihrer Umgebung tut, vergewissert sich stets auf Neue ihrer Gefühle. Was ihr fehlt, ist die Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen. Doch dieses Defizit hat auch Vorteile. In ihre erste Liebe stürzt sie sich mit einer Bedingungslosigkeit, die einen neidisch machen könnte.

Johanne verliebt sich in den Musiker Ivar, der in der Uni-Cafeteria jobbt. Sie genießt diese Beziehung in vollen Zügen und erforscht lustvoll ihre Sexualität. Selbst ihre Frömmigkeit kommt ihr dabei nicht in die Quere, denn Gott bleibt ihre "Glückspille". Die beiden sind erst kurz zusammen, als Ivar sie auf eine Reise in die USA mitnehmen will. Das hieße, einen Teil ihres Studiums zu versäumen, es vielleicht sogar abzubrechen. Für Johanne, die keine Hemmungen mehr kennt, stellt das kein Problem dar, umso mehr aber für ihre Mutter. Am Tag des Abflugs schließt sie ihre Tochter in deren Zimmer ein. Ohne davon zu wissen, reist Ivar ab. Johannes Glück zerbricht.

Mit einer Rahmengeschichte nimmt die norwegische Schriftstellerin Hanne Ørstavik diesen tragischen Schluss vorweg. Regelmäßig lässt sie ihre Leser in das Zimmer zurückkehren, das zu Hannes Gefängnis geworden ist. Hier tritt auch Johannes andere Seite zutage. Denn bei allem Lebensoptimismus wird sie von krankhafter Unsicherheit und Selbstzweifeln geplagt. Sie glaubt ein Loch in sich, "aus dem die Kraft nur so herausfließt". Ihre Disziplin erweist sich als ein Korsett selbstauferlegter Zwänge. Schon die kleinste Begebenheit, die in Johannes Kosmos eindringt, löst eine Spekulationsflut aus, die jede Glückserfahrung in Frage stellt. Oft brechen sexuelle Gewaltvisionen über sie herein, deren Ursache jedoch im Dunkeln bleiben.

Das größte Hindernis ist ihre Mutter, ein besitzergreifendes Monstrum, wie sich nach und nach herausstellt. Frustriert durch die Trennung von ihrem Mann pflanzt sie Johanne Schuldgefühle ein und hält sie in Abhängigkeit. Ihr Schlafzimmer ist vom Wohnraum nur durch einen Vorhang abgetrennt – Sinnbild für ihren Kontrollzwang. So eine gibt ihre Tochter nicht einfach frei, sondern setzt alles daran, sie weiter zu manipulieren.

Dies wird aber nur dem Leser klar. Johanne verliert über ihre "Mama" kein böses Wort, vertraut ihr blind, sucht die Schuld immer bei sich. Als ihre Mutter sie endlich aus ihrem Zimmer befreit – Ivar ist fort –, fühlt sich Johanne von all ihren Gefühlen verlassen. Nicht einmal Hass stellt sich ein. Ihr Wille ist gebrochen.

Hanne Ørstavik konzentiert sich in ihrem vierten Roman ganz auf die Hauptfigur, über die man einen Zugang zu dieser spröden Geschichte findet. Der Begriff "subtil" wird für eine gründliche Charakterzeichnung gerne bemüht. Hier trifft er zu. Ørstavik versteht es, einem das Innere Johannes vertraut zu machen, ihre Beweggründe, Sehnsüchte und Ängste offenzulegen. Zugleich lässt die präzise, direkte Sprache Vieles unausgesprochen, ein Widerspruch, dem eine düstere Spannung innewohnt.

Eines ist klar: Johanne wirkt ganz anders als die lebenstüchtigen, mit allen Wassern gewaschenen Heldinnen der Popliteratur. Doch wie das so ist mit der personifizierten Unschuld: Sie wirkt immer ein wenig konstruiert und aufgesetzt. Unschuld macht verletzbar, aber muss das so bleiben? Letztlich kommt Johannes Entwicklung zum Erliegen, erdrückt von dem Beschützerinstinkt ihrer Mutter. Man mag das bedauern – ein eindrucksvolles Psychogramm ist der Roman allemal.

© Thomas Kastura



Hanne Ørstavik: Als ich gerade glücklich war.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002.
175 Seiten. 14 €


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