Das
mag einem lächerlich vorkommen, aber Johanne ist alles andere als
einfältig. Mit wachen Sinnen registriert sie, was sich in ihrer
Umgebung tut, vergewissert sich stets auf Neue ihrer Gefühle. Was
ihr fehlt, ist die Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen. Doch dieses
Defizit hat auch Vorteile. In ihre erste Liebe stürzt sie sich
mit einer Bedingungslosigkeit, die einen neidisch machen könnte.
Johanne verliebt sich in den Musiker Ivar, der in der
Uni-Cafeteria jobbt. Sie genießt diese Beziehung in vollen Zügen
und erforscht lustvoll ihre Sexualität. Selbst ihre Frömmigkeit
kommt ihr dabei nicht in die Quere, denn Gott bleibt ihre "Glückspille".
Die beiden sind erst kurz zusammen, als Ivar sie auf eine Reise in die
USA mitnehmen will. Das hieße, einen Teil ihres Studiums zu versäumen,
es vielleicht sogar abzubrechen. Für Johanne, die keine Hemmungen
mehr kennt, stellt das kein Problem dar, umso mehr aber für ihre
Mutter. Am Tag des Abflugs schließt sie ihre Tochter in deren
Zimmer ein. Ohne davon zu wissen, reist Ivar ab. Johannes Glück
zerbricht.
Mit einer Rahmengeschichte nimmt die norwegische Schriftstellerin
Hanne Ørstavik diesen tragischen Schluss vorweg. Regelmäßig
lässt sie ihre Leser in das Zimmer zurückkehren, das zu Hannes
Gefängnis geworden ist. Hier tritt auch Johannes andere Seite zutage.
Denn bei allem Lebensoptimismus wird sie von krankhafter Unsicherheit
und Selbstzweifeln geplagt. Sie glaubt ein Loch in sich, "aus dem
die Kraft nur so herausfließt". Ihre Disziplin erweist sich
als ein Korsett selbstauferlegter Zwänge. Schon die kleinste Begebenheit,
die in Johannes Kosmos eindringt, löst eine Spekulationsflut aus,
die jede Glückserfahrung in Frage stellt. Oft brechen sexuelle
Gewaltvisionen über sie herein, deren Ursache jedoch im Dunkeln
bleiben.
Das größte Hindernis ist ihre Mutter, ein
besitzergreifendes Monstrum, wie sich nach und nach herausstellt. Frustriert
durch die Trennung von ihrem Mann pflanzt sie Johanne Schuldgefühle
ein und hält sie in Abhängigkeit. Ihr Schlafzimmer ist vom
Wohnraum nur durch einen Vorhang abgetrennt – Sinnbild für
ihren Kontrollzwang. So eine gibt ihre Tochter nicht einfach frei, sondern
setzt alles daran, sie weiter zu manipulieren.
Dies wird aber nur dem Leser klar. Johanne verliert
über ihre "Mama" kein böses Wort, vertraut ihr blind,
sucht die Schuld immer bei sich. Als ihre Mutter sie endlich aus ihrem
Zimmer befreit – Ivar ist fort –, fühlt sich Johanne
von all ihren Gefühlen verlassen. Nicht einmal Hass stellt sich
ein. Ihr Wille ist gebrochen.
Hanne Ørstavik konzentiert sich in ihrem vierten
Roman ganz auf die Hauptfigur, über die man einen Zugang zu dieser
spröden Geschichte findet. Der Begriff "subtil" wird
für eine gründliche Charakterzeichnung gerne bemüht.
Hier trifft er zu. Ørstavik versteht es, einem das Innere Johannes
vertraut zu machen, ihre Beweggründe, Sehnsüchte und Ängste
offenzulegen. Zugleich lässt die präzise, direkte Sprache
Vieles unausgesprochen, ein Widerspruch, dem eine düstere Spannung
innewohnt.
Eines ist klar: Johanne wirkt ganz anders als die lebenstüchtigen,
mit allen Wassern gewaschenen Heldinnen der Popliteratur. Doch wie das
so ist mit der personifizierten Unschuld: Sie wirkt immer ein wenig
konstruiert und aufgesetzt. Unschuld macht verletzbar, aber muss das
so bleiben? Letztlich kommt Johannes Entwicklung zum Erliegen, erdrückt
von dem Beschützerinstinkt ihrer Mutter. Man mag das bedauern –
ein eindrucksvolles Psychogramm ist der Roman allemal.
©
Thomas Kastura
Hanne
Ørstavik: Als ich gerade glücklich war.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002.
175 Seiten. 14 €
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