Die
Geschwindigkeit, mit der Paul Auster seine Bücher schreibt, kann
einem den Atem verschlagen. Nach frühen Gedichten (1970-1979) und
einigen Erzählungen veröffentlichte er seit 1985 acht Romane.
Dazwischen drehte er mit Wayne Wang zwei Filme, Smoke
und Blue
in the Face
. Keine
Frage: Auster hat den Dreh raus. Mit der New
York-Trilogie
(1985-86) stieß er auf eine literarische Funktionsformel,
die er zum seriellen Patent raffinierte. Es ist die prima und zugleich
ultima materia der Postmoderne: einfache Sprache und ungewöhnliche
Plots für die breite Leserschaft, fraktale Motivschleifen und Intertext-Algorithmen
für akademische Tüftler.
Mediengewandte Vielschreiberei ruft hierzulande schnell
Skeptiker auf den Plan. Ist Auster aus seiner immensen Produktivität
ein Vorwurf zu machen? Immerhin gelang ihm der Durchbruch erst mit 38
Jahren, und der Weg, den der 1947 geborene Brooklyner bis dahin zurücklegte,
war steinig.
Von seinen frühen Gedichten, hermetischen Kopflastigkeiten in kleiner Auflage, distanziert sich Auster heute. Unnötigerweise, denn es spricht für den Amerikaner, zuerst die hohe Schule geballter Sprachreflexion durchlaufen zu haben, um danach jenen selbstverständlich wirkenden, unbekümmerten Erzählton zu kultivieren, der ihn berühmt machte. Damit vollzog er im eigenen Werk einen Epochensprung, der ihn von Celan über Kafka zu sich selbst führte.
Austers
jüngster Roman "Mr. Vertigo" ist nicht sein dickster,
aber sein bester. Dieser Eindruck wiederholt sich übrigens bei
jedem neuen Auster. Warum das so ist? Offenbar ist es dem Autor gelungen,
seinen Stil nicht nur zu finden, sondern zu perfektionieren. Auch stofflich
besitzt er ein Sensorium für aktuelle Entwicklungen. Während
die Romane der Achtziger noch mit Einzelgängerfiguren ihr Spiel
treiben und einen Hang zum Endzeitlichen haben, markiert "Die Musik
des Zufalls" (1990) einen Wechsel zur gesellschaftlichen Parabel.
Außerdem sind die Geschichten, die Auster im Laufe der Jahre aneinandergereiht
hat, jedesmal so kraftvoll und fesselnd (und immer etwas merkwürdig),
daß man sich ihnen kaum entziehen kann.
"Mr. Vertigo" ist vergleichsweise konventionell
erzählt. Die Künstlichkeit der früheren Romane, die sich
häufig in gleitender Perspektivik niederschlug, weicht dem linearen
Rückblick. Künstlich ist an dem neuen Buch nur der Kern des
tragfähigen Plots: ein kleiner Junge lernt fliegen. Walt der Wunderknabe,
wie er bald genannt wird, schwebt frei in der Luft, er beherrscht die
Kunst der Levitation, die man z.B. auch indischen Yogis zuschreibt.
Die Geschichte beginnt 1924 in St. Louis. Aus der Sicht
Walter Rawleys entfaltet sich eine abseitige Variante des amerikanischen
Traums. Als Gassenjunge schließt er einen sinistren Pakt: Meister
Yehudi, ein Spinoza lesender ungarischer Jude, will ihm in drei Jahren
das Fliegen beibringen. Da Walt nichts zu verlieren hat, geht er auf
das Angebot ein und gerät in "höchst spirituelle Angelegenheiten".
Auf einer Farm in Kansas lernt er die Levitation, nachdem er eine Reihe
mystischer Abhärtungsrituale (u.a. wird er lebendig begraben) durchlaufen
hat. Erst als er eine Stufe völliger Selbstentäußerung
erreicht, hebt sein Körper vom Boden ab.
Es folgt die Karriere des Wunderknaben, der knapp einem Massaker
des Ku-Klux-Klan entkommt und mit seinem Mentor/Manager Meister Yehudi
quer durch Amerika tourt. Rasch erzählt Auster den ersten erfolgreichen
Auftritt Walts herunter, als ob ihm diese Sensationseffekte peinlich
wären. Mit dem Börsenkrach von 1929 ist auch der Aufstieg
Walts zuende: Seine Pubertät hat unerwünschte Nebenwirkungen
auf die Überwindung der Schwerkraft - nach jedem Auftritt befallen
ihn unerträgliche Schmerzen, die "Höhenangst" (Vertigo)
setzt ein. Überdies wird er von seinem "bösen" Onkel
Slim verfolgt, einem kleinen Ganoven, der den Neid der rabiaten Massen
verkörpert. Nach einem Raubüberfall, für den sich Walt
bitter an Slim rächen wird, nimmt sich der schwerverletzte, aber
schon totkranke Yehudi das Leben. Das Wunderkind landet wieder auf der
Straße und baut sich langsam eine neue, nunmehr realistische Zukunft
auf. Als Mafioso eröffnet er in Chicago den Nachtclub "Mr.
Vertigo". Schließlich
begräbt Walt den Traum vom schnellen Geld und wird nach dem Zweiten
Weltkrieg bürgerlich. Im Rentenalter und damit in der Gegenwart
angelangt schreibt er ein Buch über sein Leben. Er kommt zu dem
Schluß, daß jeder Mensch in der Lage sei, "sich vom
Boden zu lösen und in der Luft herumzuschweben".
Man mag bei Auster zur Überinterpretation neigen
- manchmal ist eine gute Geschichte eben nur eine gute Geschichte. "Mr.
Vertigo" muß jedoch mit größter Vorsicht behandelt
werden. Zwar gibt sich Walt als Erzähler ganz unkompliziert, häufig
auch vulgär, aber das ist alles Handwerk, gehört zur Kulisse.
Zur Routine sind bei Auster inzwischen auch eine Reihe vielfach variierter
Topoi geworden: die Vater-Sohn-Problematik, das Doppelgänger-Motiv
(auch Walts Namensvetter Sir Walter Raleigh ist ein tragischer Abenteurer),
der Wechsel zwischen geschlossenen und offenen Räumen (nach der
ländlichen Klausur folgt die Wanderschaft bzw. das Roadmovie),
die Wildnis als Ort der Bedrohung (Gefahr zieht immer fern der Großstädte
herauf, im sog. Wilden Westen, wo die Menschen einfältig und skrupellos
sind) sowie der Zufall als entscheidender Handlungsfaktor. Letzterer
ist das Signum der Auster-Prosa, in der alle Wendepunkte auf kontingente
Ereignisse zurückgehen. Der Zufall, Motor eines jeden Schicksals,
erweist sich dabei als Eingriff höherer Mächte, als gnostische
Erfahrung der Identität von Leben und Leiden, die sich auch in
der stufenweisen Fluginitation offenbart.
Walts
Aufstieg zum Wunderknaben ist die interessanteste Metapher in Austers
Werk. Ihre autobiographische Deutung liegt so nahe, daß man sie
fast übersieht: Fliegen ist Schreiben, und Walts Rückblick
ist nichts anderes als Austers Resumé seiner eigenen Schriftstellerlaufbahn,
freilich mit anderem Ausgang. Walts Selbsteinschätzungen lassen
sich als versteckte Poetologie Austers lesen: Nachdem das Brimborium
der ersten Auftritte beim Publikum nicht ankam, entschließt sich
der Junge zu einer schlichteren Präsentation in Bluejeans und Karohemd.
"Mir schwebte was Modernes vor, was mit Köpfchen, elegant
und direkt". Bald versteht sich Walt als Künstler, als "echter
Schöpfer, der nicht weniger für sich selbst auftrat als für
andere", und der dem Ideal einer Kunst für alle anhängt:
"Meine Nummer kam überall an, sie verblüffte jeden, ob
reich oder arm". Dem Genie wird das Außerordentliche zur
Daseinsform, als Mensch existiert Walt nur, "wenn er in der Luft
schwebte". Innovation liegt für ihn nicht im Akt des Fliegens
an sich, sondern in der kalkulierten Variation, deren wichtigste Elemente
"Form und Zusammenhang, Struktur, Rhythmus und Überraschungsmomente"
sind. Walts späte Einsicht besteht darin, daß man die "hochtrabenden"
Stufen der Ausbildung überspringen könne und nur "genügend
harte Arbeit und Konzentration" investieren müsse. Wesentlich
sei dabei die Verzweiflung und das Bewußtsein, "daß
der Himmel dein einziger Freund ist".
Wenn Austers Literatur auch auf die Vermittlung zwischen
Elite und Masse zielt, enthält sie doch - wie die Postmoderne -
einen Schuß Eskapsismus. Im Mittelpunkt steht der Autor, der sich
selbst unterhält und damit auch erhält. Man folgt dem New
Yorker gerne auf diesen Weg, denn abheben wird er wohl nicht. Walts
Worte sind die seinen und zugleich die des Lesers: "Bei manchen
Stellen lachte ich, bei anderen heulte ich, und was kann man mehr von
einem Buch verlangen, als daß es einem solche Wonnen und Schmerzen
bereitet?"
©
Thomas Kastura
Die
Rezension erschien unter dem Titel "Ein kleiner Junge lernt fliegen"
im Rheinischen Merkur vom 12.1.1996
Paul
Auster: Mr. Vertigo.
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Reinbek: Rowohlt 1997. 320 Seiten. 8,90 €
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